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Ein Revolutionär in Wien

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Wien, die Metropole der Donaumonarchie, war vor dem Ersten Weltkrieg ein Anziehungspunkt für eine Vielzahl von Emigranten und Revolutionären aus allen Teilen Europas, die nach Kriegsausbruch in alle Windrichtungen verstreut wurden und in der Folge das Gesicht unseres Jahrhunderts entscheidend prägten. Einer von ihnen war Trotzki, der vor 100 Jahren, am 7. November 1879, in Janowka geboren wurde. Unser Beitrag über Trotzkis Aufenthalt in Wien ist dem Drehbuch von Milo Dors Fernsehfilm „Wien 1913 - Bahnhof der Geschichte“ entnommen.

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Wien, die Metropole der Donaumonarchie, war vor dem Ersten Weltkrieg ein Anziehungspunkt für eine Vielzahl von Emigranten und Revolutionären aus allen Teilen Europas, die nach Kriegsausbruch in alle Windrichtungen verstreut wurden und in der Folge das Gesicht unseres Jahrhunderts entscheidend prägten. Einer von ihnen war Trotzki, der vor 100 Jahren, am 7. November 1879, in Janowka geboren wurde. Unser Beitrag über Trotzkis Aufenthalt in Wien ist dem Drehbuch von Milo Dors Fernsehfilm „Wien 1913 - Bahnhof der Geschichte“ entnommen.

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Von allen russischen Emigranten hielt sich Leo Dawidowitsch Bronstein, genannt Trotzki, am längsten in Wien auf. Nach dem Scheitern derersten russischen Revolution von 1905, in der er der Vorsitzende des Sowjets in Petersburg gewesen war, wurde er lebenslänglich nach Sibirien verbannt. 1907 gelang ihm die Flucht nach Westeuropa. Er kam nach Wien.

„Der Stadtteil Hütteldorf hat mir gefallen“, schrieb Trotzkis Frau, Natalia Sedowa. „Im April, als wir unsere Wohnung verlassen mußten, da die Miete verdoppelt wurde, blühten im Garten schon Veilchen. Hier wurde Serioscha geboren. Man mußte dann nach dem demokratischeren Sievering umziehen.“

„Trotzkis Haus in Wien-Sievering, Rodlergasse“, schrieb der russisch-amerikanische Sozialist Olgin, „war ein Armeleutehaus … Seine drei .Zimmer in einem Arbeiterviertel der Vorstadt waren ungenügend möbliert. Seine Kleidung war dürftig, als daß er in den Augen eines Wiener Kleinbürgers respektabel hätte gelten können.“

Seit Oktober 1908 gab Trotzki in Wien die russische Zeitung „Prawda“ heraus, die unregelmäßig erschien und nach Rußland geschmuggelt wurde.

„In dieser Zeitung“, schrieb der spätere Stalinist Swertschkow, • „setzte sich Trotzki in alter Weise beharrlich, hartnäckig mit den Gedanken von der .Permanenz“ der russischen Revolution auseinander, das heißt, er versuchte zu beweisen, daß die Revolution, einmal begonnen, nicht aufhören würde, bis sie zur Niederwerfung des Kapitalismus und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der ganzen Welt geführt haben wird.“

Im übrigen nahm Trotzki eine unabhängige Position ein und verfeindete sich so einmal mit der Fraktion der Bolschewik! und einmal mit der Fraktion der Menschewiki.

Im September 1912 fuhr Trotzki als Kriegskorrespondent der Zeitung „Kiewer Gedanke“ auf den Balkan. Als er über die von den Bulgaren verübten Bestialitäten an den verwundeten und gefangenen Türken schrieb, wurde er von der offiziellen russischen Presse zum österreichischen Spion gestempelt.

Uber sein Leben und seine Arbeit in Wien schrieb Trotzki selbst: „Mein Einkommen aus den .Kiewer Gedanken“ hätte für unsere bescheidene Existenz hingereicht. Aber es gab Monate, wo die Arbeit an der .Prawda“ mir keine Möglichkeit ließ, auch nur eine bezahlte Zeile zu schreiben. Dann trat eine Krise ein. Meine Frau kannte den Weg ins Leihhaus - Dorotheum - gut, und ich habe wiederholt meine in üppigeren Tagen erworbenen Bücher zu den Antiquaren getragen. Es kam vor, daß unsere bescheidene Wohnungseinrichtung rückständiger Miete wegen gepfändet wurde.“

Der Trotzki-Experte Harry Wilde zum Wien-Aufenthalt des Revolutionärs: „In jenen ruhigen sieben Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wurde Trotzki zum Wiener, wenn man will als Beweis seiner kosmopolitischen Grundhaltung“, schrieb er in seiner Trotzki-Monographie. „Die Hauptstadt der Donaumonarchie war der Schmelztiegel der rund ein Dutzend Völkerschaften dieses Reiches. Hier eignete er sich jene universelle Bildung an, die der völlig einseitig geprägte Lenin nie erreichte und wie sie unter den russischen Emigranten, selbst-wenn sie schon länger als ein

Jahrzehnt im Ausland lebten, äußerst selten war.“

Das Cafė Central war ein Symbol für die kosmopolitische Grundhaltung, von der Harry Wilde spricht. Hier lagen im Jahre 1913 251 in- und ausländische Zeitungen auf. Hier kamen sie alle zusammen - die Adeligen und die Bürger, die Reichstagsabgeordneten und die Revolutionäre - um sich zu informieren. Auch Trotzki verbrachte viel in diesen Räumen, wo er geschrieben, gelesen, debattiert und insbesondere Schach gespielt hat.

Zwei Monate verbrachte auch Stalin, der spätere Rivale Trotzkis um die Macht in der Sowjetunion, in Wien, um hier im Herzen des Vielvölkerreiches die Nationalitätenfrage zu studieren. Stalin besuchte niemals das Cafė Central, und er hat auch jede andere Berührung mit seinen russischen Kollegen vermieden. Es ist vielleicht typisch für seinen introvertierten Charakter, daß er sich diesem Kollektiv nie genähert hat, zumindest nicht in Wien.

Zum Unterschied von Stalin war Trotzki ein ausgesprochen geselliger Mensch, der sich auch für Literatur und die Malerei interessierte und darüber für den „Kiewer Gedanken“ schrieb, so über die Ausstellungen der Wiener Secession, den Münchner „Simplicissimus“, über die Karikatur ren von T. T. Heine und über Frank Wedekind…

Die Schüsse von Sarajewo vom 28. Juni 1914 hatte die militärischen Apparate der europäischen Großmächte, die schon seit Jahren auf den Krieg vorbereitet waren, in Bewegung gesetzt. So brach der Erste Weltkrieg aus, den angeblich niemand gewollt, aber auch niemand verhindert hat.

Am 2. August ging Trotzki zu Victor Adler, um ihn um Rat zu fragen, was er nun tun solle. „Ich wanderte durch die Hauptstraße des mir so gut bekannten Wien“, schrieb er,- „und beobachtete die für den prunkvollen Ring so ungewöhnliche Menschenmenge, in der Hoffnungen lebendig wurden. Und hatte sich ein Teilchen dieser Hoffnung nicht schon heute verwirklicht? Hätten sich zu einer anderen Zeit die Gepäckträger, Waschfrauen, Schuhmacher, Gehilfen und die Halbwüchsigen der Vorstadt auf der Ringstraße als Herren der Lage fühlen können? Der Krieg erfaßt alle, und folglich fühlen sich alle Unterdrückten, vom Leben Betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße.“

Victor Adler fuhr mit Trotzki zum Polizeipräsidenten Geyer, der dem russischen Emigranten riet, sofort abzureisen. In drei Stunden war Trotzki auf dem Weg in die Schweiz…

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