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Wenn zwei dasselbe zu sein scheinen...

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Mark Iwain erzählte einmal in seiner skurrilen, doch höchste Weisheit bergenden Art, man habe den heiligen Petrus im Himmel befragt, wer unter den im Jenseits weilenden Feldherren der größte auf Erden gewesen sei: Alexander von Makedonien, Julius Cäsar, Friedrich II. von Preußen, Napoleon? Der Apostelfürst schüttelte das Haupt und zeigte auf ein unansehnliches, kleines Männlein. — „Ja, wer ist denn der?“ — „Einst war er Hausierer im Wilden Westen. Er hatte die genialste strategische Begabung; er ist nur nicht dazu gelangt, sie zu zeigen.“

An dieses Geschichtchen möchte man denken, wenn man die Lebensbeschreibung der beiden außerordentlichen Männer liest, deren nahe Vorfahren im osteuropäischen Getto hausten, die zwar bereits in verhältnismäßigem Wohlstand, der eine als Solm eines kleinstädtischen Rechtsanwalts, der andere als der eines Gutsbesitzers, aufwuchsen, denen aber niemand an der Wiege prophezeit hätte, sie würden der überragende Regierungschef eines wiedererstandenen unabhängigen Staates, Israel, oder zeitweilig der Zweitmächtigstc im zum Sowjetreich gewordenen Rußland und beinahe dessen allmächtiger Beherrscher werden.

Trotzki und Ben Gurion, das sind wahrhaft „des hors-serie“, wie Anatole de Mon-zie derlei erst im zwanzigsten Jahrhundert wieder in die Weltgeschichte einziehende Existenzen genannt hat.

Der Parallelismus zwischen beiden ist erstaunlich und tiefgreifend, obgleich ihre Lebenswege schließlich weit auseinander-(treben. Da wachsen zwei frühreife, glänzend begabte Judenknaben im Bereich der einstigen polnischen Rzeczpospolita auf, die im Moment ihrer Geburt unter der Souveränität des russischen Zaren und unter der Knute des russischen Tschinovniks stöhnt. Leo Trotzki, damals noch Lejba Dawidowitsch Bronstein, Jahrgang 1879, verbringt die Kindheit auf dem ukrainischen Gut Janowka. Ben Gurion, ursprünglich David Grien, 1886 geboren, genießt eine mehr umsorgte Jugend in Plonsk, unfern Warschau. Die Eltern des künftigen Sowjetgewaltigen waren reich, doch ungebildet, die des Mitbegründers des Staateikuel mit Glücksgüterti minder gew segnet,, .doch europäischer Kultur aufgeschlossen. Mit der christlichen Umwelt, in Janowka, dann in Odessa hat der kleine, der junge Bronstein ebenso äußerlichen, oberflächlichen Kontakt gehabt wie der Knabe David Grien. Von Russen und Ukrainern, es seien Gutsherren, Beamte, Handwerker, Bauern, wie von Polen waren sie durch eine unsichtbare Wand geschieden. Sie empfanden früh ihr Fremdsein in einer Umwelt, der Vater Bronstein mit resignierter Gleichgültigkeit gegenüberstand, solange er nicht bei seinem zähen Bemühen um Bereicherung gestört wurde, während der Anwalt Grien einerseits die politische Zurücksetzung und die Absonderung als Schmach fühlte, anderseits aus derlei Not eine Tugend machte und also sich dem Zionismus, dem Bekenntnis zum nationalen Judentum, zuwandte. Der Religion ihrer Ahnen waren die Familien Bronstein und Grien insofern abtrünnig, als sie nicht mehr die Vorschriften der jüdischen Orthodoxie beobachteten. Lejba, nunmehr Lev (Leo), der schließlich nach mehreren anderen Pseudonymen einen Nom de guerre. einen Kriegsnamen des Klassenkampfes, sich zulegt, unter dem er in die Weltgeschichte einzieht: Trotzky (oder in richtiger Transkription: Trocki) hat aus dem Elternhaus keinerlei „idealistisches“ Gepäck mitbekommen. Seine erste Berührung mit der Wissenschaft und mit der russischen oder jüdischen Intclligcnzschicht bestätigt ihm einen instinktiven Materialismus, dem er fortan treu bleibt: unverstehend gegenüber jede religiöse Regung wie gegen nationale, patriotische „Vorurteile“. Er sieht von seinem achtzehnten Jahr an nur e i n Ziel, dem er sich und später seine Familie weiht, für das er jedes Opfer zu bringen bereit ist: den Umsturz, die permanente Revolution. Daß er sie von Rußland aus, dem Lande seiner Geburt, leitet, beruht einzig auf den vorhandenen Gegebenheiten. Niemals, auch nicht, als er mit genialer Meisterschaft und mit beispielhafter Todesverachtung den Bürgerkrieg für den Kommunismus gewann, hat er die leiseste nationale Regung ver spürt. Nicht als Jude, dem der Zionismu und Erez Jisroel gleichgültig oder, glittei sie ins Lager der Feinde der Weltrevolu tion, verhaßt waren; und schon gar nich als Russe oder als Sowjetbürger. Er wollt nur zerstören, kämpfen und dann nach sei nen Ideen wiederaufbauen. Doch dabei dar man eines nicht vergessen, das gerade da Fesselndste an diesem unheimlichen Weser an ihm ist, der mehr elementare Kraft wa denn Mensch: Er wurde sich selbst darübe nicht klar, daß seine hingebende Tätigkeil sein Eifer für die Revolution, daß alle! alles nur die Wirkung eines inneren Da mons in ihm war. Dieser Dämon trieb ihr Trotzki, unablässig an, Macht zu erringet Macht auszuüben, sie zu mehren und dabi ledes Hindernis zu beseitigen oder, wie aas zuletzt geschah, selbst vernichtet zu werden. Das absonderliche Schauspiel bot sich dar, daß diesmal der Sproß von Hausierern nicht erst im Himmel oder in der Hölle sls großer Feldherr, Organisator, Staatsinann erkannt wurde, sondern schon hie-nieden, ihm und Millionen zum Fluch. Das in der Hand der Selbstbiographie zu verfolgen, ist von unerhörtem Reiz.

Ben Gurion, vordem Grien, der ebenfalls unter seinem als Vierundzwanzigjähriger ingenommenen Kriegsnamen berühmt geworden ist, gleicht dem Sieger im sowjetischen Kampf gegen die Weißen und gegen lie fremde Intervention im Drang zur Macht als Bekunder glänzender militärischer Begabung, der vordem niemand im Ostjuden aus der Gettosphärc geahnt hätte. Doch da zeigt sich sofort ein klaffender Unterschied. Ben Gurion lebt aus einer Tradition, in ihr und für sie. Er hat es nicht vermocht, als Pole, als Russe in einer ihm unholden Gesellschaft, nur scheinbar assimiliert, aufzugehen. Allein, er verfällt darum weder dem Ressentiment eines niederreißenden Kosmopolitismus noch einem, vor sich selbst uneingestande-iien. objektiv sinnlosen Hang, den Kampf aus Freude am Kampf zu führen, Macht aus Leidenschaft für die Macht auszuüben. Ohne fromm nach den Maßstäben der Orthodoxen zu sein, ist er zutiefst vom Geist der Bibel erfüllt, die ihm sozusagen das tägliche geistige Brot bedeutet. Er liebt sein Volk, er ist stolz auf den Staat, den zu errichten er entscheidend mitgeholfen hat. Er kennt kein Ressentiment und, ob-zwar heißblütig und von starken Gefühlen beseelt, läßt er sich von ihnen nicht bei seinen politischen Handlungen leiten. Man denke nur an seine Haltung gegenüber dem neuen Deutschland und an seine Begegnung mit Adenauer in New York! Wie sich die

Laufbahn Ben Gurions gestaltet hat, die eines Juden, der zum Großen Alten Mann der Israelis wurde, eines Sozialisten, der frei von Scheuklappen ein gewaltiges Wirtschaftswunder wirkte, eines Führers, der — anders als Trotzki — stets seine Möglichkeiten richtig einschätzte und darum nicht unter die Räder geriet: Das alles finden wir in der, freilich panegyrischen, Biographie wieder, die ein bewundernder Freund verfaßt hat.

Trotzkis Selbstdarstellung ist ein literarisches Meisterwerk, doch es weckt neben Bewunderung weit mehr Grauen und Entsetzen. St. Johns Buch über Ben Gurion ist unbeholfen, naiv-kritisch, mäßig geschrieben; dennoch nimmt es für seinen Helden ein, der bei aller spröden Härte innerlich voll Güte ist, ein „Sabre“ — so nennt man die in Israel geborene Jugend, nach einer dortigen Kakteenart, die nach außen stachelig ist, doch einen wohlschmeckenden Kern hat —, obzwar er weit vom Heiligen Land das Licht der Welt erblickte.

Beide Werke, Trotzkis „Mein Leben“ -durch ein die Zeit von 1929 bis 1940 enthaltendes Nachwort erweiterte Neuausgabe der ersten, 1929 erschienenen Auflage — und St. Johns „Ben Gurion“, sind übersetzt, das erste aus dem russischen Original und das Nachwort aus dem Amerikanischen; das zweite aus dem Amerikanischen, beide nicht gerade hervorragend. Besonders bei Trotzki ärgern zahlreiche Entgleisungen, die durch nachprüfende Sachkundige hätten vermieden werden sollen. So wird der ehemalige „österreichische Kriegsminister“ Hans (statt Julius) Deutsch geheißen. In Wien amtet ein Präfekt, die brave Polizeidirektion wird in eine Präfektur verwandelt. Fremde Eigennamen, die aus dem Russischen rückübersetzt werden, sind greulich entstellt; etwa Daschinski statt Daszynski, Dserschinski statt Dzierzynski.

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