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Die lange Liste

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3. Thirrings Argument, daß der Kommunismus — zum Unterschied von Hitler — seine Weltherrschaft nicht durch Kriege, sondern durch Revolutionen im Inneren der Länder anstrebt, wird sowohl durch die kommunistische Fundamentaltheorie als auch durch eine lange Praxis widersprochen. Der heute mehr denn je als theoretische Autorität vom Kommunismus anerkannte Lenin hat von Clausewitz das Diktum übernommen, daß „der Krieg die Fortsetzung der Politik der Friedenszeit und der Frieden die Fortführung der Politik des Krieges — nur eben mit den entsprechenden Mitteln“ — seien. So schrieb Lenin schon im Jahre 1915 (Ausgewählte Werke, englische Ausgabe, 5. Band, Seite 141):

„Das siegreiche Proletariat... wird, nachdem es die Kapitalisten enteignet und seine eigene sozialistische Produktion organisiert hat, sich der übrigen kapitalistischen Welt entgegenstellen, die unterdrückten Klassen der anderen Länder an sich ziehen, sie zu Aufständen gegen die Kapitalisten veranlassen und, wenn nötig, auch mit bewaffneter Kraft gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen.“

Somit war nichts unmarxistischleninistisch an der — übrigens bereits unter Lenin begonnenen und heute noch nicht beendeten — Praxis des mit militärischen Mitteln unternommenen Exports des Kommunismus in nichtkommunistische Sphären.

Es wurden durch direkte militärische Aktionen der Roten Armee nichtkommunistische Regierungen und Verwaltungen abgesetzt und durch kommunistische ersetzt oder zu Gebietsabtrennungen gezwungen:

1917 bis 1924 in der Ukraine, in Armenien, Aserbeidschan, Baschki-rien, Georgien, Turkestan und im Kaukasus. 1939 und 1940 in Litauen, Lettland und Estland, in Finnland durch einen Angriffskrieg. (Thirring bezeichnet just Finnland als besonders für einseitige vollständige Abrüstung geeignet!) Darnach Bessara-bien und die Nordbukowina von Rumänien. Nach 1944 in Nordkorea, Polen, Rumänien, Ostdeutschland, Bulgarien und Ungarn. Die militärische Intervention der Roten Armee in Ungarn, 1956, fiel übrigens bereits in die Periode der sowjetischen friedlichen Koexistenz, von der Professor Thirring erklärte, daß sie der Sowjetkommunismus durch keine Aggression und durch kennen Prestigeverlust gefährden möchte.

In die lange Kette der sowjetischen territorialen „Erwerbungen“ reihten sich immer wieder Perioden friedlicher Koexistenz ein. Diese ist keineswegs eine Erfindung Chruschtschows oder der nachstalinisti-schen Ära. Lenin war ihr Vater mit dem von ihm geprägten Satz: „Es gibt keinen Sieg ohne die Kenntnis, wann man angreifen und wann man sich zurückziehen muß.“ (Aus „Der Radikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus“.) Die gelernten Kommunisten betrachten heute noch den unter Lenin abgeschlossenen Frieden von Brest-Litowsk als Vorbild praktischer Koexistenzpolitik, und die für den Weltkommunismus tonangebende theoretische Zeitschrift „World Marxist Review“ verglich im Dezember 1962 ausdrücklich Chruschtschows Kuba-Kompromiß mit dem Leninschen von Brest-Litowsk.

Es soll damit nicht gesagt werden, daß die friedliche Koexistenz ein Mitte! zur Ausdehnung kommunistischer Herrschaft ist, aber sie kann zur Schaffung hierfür geeigneter Voraussetzungen dienen — genauso wie der Krieg in der Vergangenheit, der auch jetzt, wenn auch ohne Atomwaffe, ganz und gar nicht vom Kommunismus abgelehnt wird. Heißt es doch ausdrücklich im neuen, 1961 veröffentlichten Programm der KPdSU: „...sie (die Sowjetunion und das Sowjetvolk) erachten es als ihre Pflicht, den heiligen Kampf der unterdrückten Völker und ihre gerechten Befreiungskriege gegen die Imperialisten zu unterstützen.“ Wer bestimmt aber, was und wer wann gerecht ist und wer von wem wann unterdrückt wird?

Universitätsprofessor Thirrings Argument, daß ein potenieller Aggressor heute seine Hoffnungen auf Entspannung und auf einen Erfolg der Abrüstungverhandlungen nicht durch einen Überfall auf ein abgerüstetes Land aufs Spiel setzen würde, entspringt einem völligen Verkennen des Wesens aller Machtpolitik wie der ganzen Lage, in der wir uns befinden. In jederlei Machtpolitik geht es in erster Linie um die Erwerbung oder Vermehrung von Macht und Einfluß und erst in zweiter um Prestige. Umgekehrt: Als ob sich die Welt jemals hierdurch oder was immer für Extratouren des Kommunismus oder der anderen Seite gestatten könnte, ihro Bereitschaft, das Ärgste zu verhüten, aufzugeben!

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