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Jenseits des Marxismus?

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„DAS GESELLSCHAFTSBILD DES SOZIALISMUS“; mit Beiträgen Ton Christian Broda, Josef Hindels, Fritz Klenner und Norbert Leser; Verlas der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1966, 197 Seiten, Paperback S 78.—.

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„DAS GESELLSCHAFTSBILD DES SOZIALISMUS“; mit Beiträgen Ton Christian Broda, Josef Hindels, Fritz Klenner und Norbert Leser; Verlas der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1966, 197 Seiten, Paperback S 78.—.

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Der Sozialismus ist eine politische Bewegung, die sich mehr zum Ziel gesetzt hat, als nur die Gesellschaft im Rahmen einer gegebenen Ordnung möglichst vernünftig zu verwalten. Das erklärte Ziel aller politischen Bestrebungen, die sich in irgendeiner Form in das breite Band ein- ordnen lassen, das man Sozialismus zu nennen pflegt, ist eine Veränderung und Optimalisierung der gesellschaftlichen Strukturen. Mit welchen Mitteln und auf welche konkreten Ziele hin diese Umformung der Gesellschaft durchzuführen ist, darüber gibt es zwsichen den verschieden Sozialismen wesentliche Differenzen. Um so wichtiger ist es, daß der Sozialismus immer wieder seine eigenen Positionen überprüft und verändert, daß er geänderten gesellschaftlichen Realitäten Rechnung trägt, daß er aus der Erfahrung lernt. Zu einem Zeitpunkt, da der österreichische Sozialismus sich bemüht, den Rückschlag vom 6. März 1966 zu analysieren, da starke Tendenzen bestehen, die auftauchenden Fragen, Zweifel und Kritiken ausschließlich auf das (sicherlich nicht unwichtige) Nebengeleise der organisatorischen, personalpolitischen und werbetechnischen Probleme abzuschieben, versuchen vier sozialistische Theoretiker zu klären, was der Sozialismus von seinem traditionellen Gesellschaftsbild noch bewahren kann, was davon zu ändern oder endgültig aufzugeben ist.

Broda knüpft in seinem Beitrag („Sozialismus in der Gegenwart“) unmittelbar am Wahlkampf 1966 an, was etwas deplaciert wirkt, weil dadurch das Modell seines Sozialismus zu sehr mit bestimmten Momenten verbunden wird, die stark augenblicksbedingt sind. Was Broda dann über das Prinzip Gleichheit zu sagen hat („Die Gleichheit bleibt der harte Kern des Sozialismus“), weist hingegen in den zeitlosen Bereich der Wertvorstellungen sozialistischen Denkens. Broda grenzt sich eindeutig vom orthodoxen Marxismus durch eine Differenzierung des Zweiklassenschemas ab (Seite 22), sein gesamter Beitrag wird aber von dem Versuch gekennzeichnet, orthodoxe Marxisten und Revisionisten unter einen Hut zu bringen — und das geht natürlich nur, wenn entscheidende Punkte (etwa der marxistische Staatsbegriff oder der Glaube an die prinzipielle Unheilbarkeit einer frei- wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung) ausgeklammert oder zumindest bagatellisiert werden.

Anders bei Hindels („Der moderne Sozialismus braucht Marx“): Hier wird mit Vehemenz einem nichtmarxistischen Sozialismus die Sozia- liSmusqualität abgesprochen. Hindels glaubt an den einen, großen, mit Sicherheit kommenden Sieg des Sozialismus „im Weltmaßstab“, was eindeutig gegen die gerichtet ist, die mit kleinen Schritten einen Sozialismus der kleinen Siege zu verwirklichen versuchen. Hindels nimmt die neuere Marx-Literatur (v. a. Künzli, „Karl Marx — eine Psychographie“) nicht zur Kenntnis und bleibt bei dem überholten Bild eines warmherzigen Karl Marx, eines vorbild- lichen Familienvaters, eines „schöpferischen, nichtentfremdeten, unabhängigen Menschen“ — wovon nur das Attribut schöpferisch den Tatsachen entspricht. Dem Phänomen der Entfremdung, das auch im Wohlfahrtsstaat existent geblieben ist, widmet Hindels einen größeren Abschnitt. Über weite Strecken kann man auch als Nicht-Marxist hier Hindels voll und ganz recht geben (auch wenn man gerne viele Akzente anders gesetzt sehen würde) — aber schließlich vermißt man die Therapie. Wie wird die Entfremdung wirklich beseitigt? Niemand, der nicht die Augen vor der osteuropäischen Wirklichkeit bewußt verschließt, wird ernsthaft behaupten wollen, daß der Weg auch des nachstalinistischen Kommunismus ein Ausweg ist. Überhaupt Stalin: Hindels hätte versuchen sollen, Stalin „marxistisch“ zu deuten. Nichts ist doch unmarxistischer, als die gewaltigen Verbrechen, die Hekatorpben von Opfern bloß auf das Konto eines einzigen Mannes und einer feindlichen Umwelt buchen zu wollen und nicht nach den Ursachen im System zu forschen. Gerade eine marxistische Analyse (etwa im Stil Karl Kautskys) kann nur zu dem Ergebnis führen: Stalin war kein Zufall.

Klenner („Einen freiheitlichen Sozialismus oder keinen“) konstatiert, der Sozialismus habe sein geschlossenes Weltbild verloren, manche Träume seien ausgeträumt. „Sicherlich verläuft die Entwicklung in der Richtung zum Sozialismus. Es ist nur die Frage, was darunter verstanden wird.“ (Seite 92) Klenner ieht deutlich die Gefahren, die auf tauchen, wenn unter Sozialismus eine Flucht vom Konkreten ins Abstrakte und von der Idee in die Ideologie verstanden wird, wenn sich die Ziele in einer Utopie verlieren. Ein solcher Sozialismus, dessen Grenzen zum Totalitarismus fließend sind, bedroht aber das letztlich höchste Ziel des Sozialismus, die Freiheit, um die alle Überlegungen Klenners kreisen. Der Sozialismus, den Klenner diesem entarteten Modell gegenüberstellt, ist somit mit einem betont individualistischen Akzent versehen, der als Regulativ für die im Sozialismus schlummernde Gefahr des Kollektivismus gedacht wird.

Geht Klenner über den Marxismus hinaus, ohne sich mit Entschiedenheit auch terminologisch von diesem zu trennen, so besteht Lesers grundlegende These („Sozialismus jenseits des Marxismus“) in der Behauptung, „daß es zwei miteinander unvereinbare, weil einander in wesentlichen Punkten widersprechende Gesellschaftsbilder gibt, nämlich das altsozialistisch-marxistische und das modern-pluralistische ...“ (Seite 130). Vom Austromarxismus und seiner Tragödie, dem Auseinanderklaffen von pseudorevolutionärer Phraseologie und reformistischer Praxis • ausgehend, führt Leser zehn Punkte an, in denen der Marxismus von der Wirklichkeit widerlegt wurde (zum Beispiel der Glaube an die Notwendig keit aller soziologischen Entwicklungen, der gesellschaftliche Perfektio- nismus, die Zusammenbruchs- und die Verelendungstheorie, das atheistische Menschenbild u. a.), ohne zum „Marx-Fresser“ zu werden, ohne einen Gedanken allein schon deshalb für hoffnungslos veraltet anzusehen, nur wenn er von Marx stammt. Die bleibenden Fortschritte, die die marxistische Methode der Gesellschaftskritik gebracht hat, leugnet Leser keineswegs; nur dürfen sie eben nicht methodenmonistisch, alle anderen Gesichtspunkte ausschließend gebraucht werden. Somit reiht Leser in überzeugender Weise Karl Marx als einen unter vielen in die lange Reihe sozialistischer Geistesheroen ein, die alle Wesentliches dem heutigen pluralistischen Sozialismus gegeben haben, von denen aber keiner Ausschließlichkeit und den Rang eines Propheten begehren darf.

Zwischen einem marxistischen und einem pluralistischen Sozialismus, zwischen einem Sozialismus, der dazu neigt, aus Empörung über die als krasses Unrecht empfundene „kapitalistische“ Gesellschaftsordnung die in jeder Gesellschaft vorhandenen Eigengesetzlichkeiten zu übersehen, und einem Sozialismus, der diese Eigengesetzlichkeiten kühl registriert und sie gerade deshalb besser in den Griff zu bekommen glaubt — zwischen diesen beiden Sozialismen kann Österreichs demokratischer Sozialismus wählen.

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