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Dieser Artikel hätte eigentlich in einer Zeitung der SPÖ erscheinen sollen. Aber der Verfasser hatte dabei wenig Glück. Von allen einschlägigen Redaktionen bekam er einen mit mehr oder weniger Blumen gezierten Korb. Höfliches Bedauern, nein, lieber nicht, wir bitten um Verständnis ... Wenn DIE FURCHE diesen für die aktuelle Diskussion innerhalb der SPÖ geschriebenen Beitrag von Günther Nenning heute veröffentlicht, dann nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, daß es gilt, den Christen in der SPÖ ihren Platz zu sichern.

Die Redaktion

Bruno Pittermann hat vor Wiener SPÖ-Funktionären auf dem Semmering unlängst erklärt, daß die SPÖ sich zur „klassenlosen Gesellschaft“ bekenne, daß Reform der Ideologie nicht in Frage komme, daß Schulmeister, die anderer Ansicht seien, eine sozialistische Partei für Nichtsozialisten gründen mögen.

Der Verdacht ist schwer widerlegbar, daß Bruno Pittermann mit dieser Erklärung der Sozialistischen Partei geschadet haben könnte, sei’s auch ungewollt; vermutlich dachte er an parteiinterne personelle Probleme.

Aber durch seine Erklärung könnte die SPÖ bed ihren Mitgliedern und Wählern als eine Partei erscheinen, in der nach den Worten ihres Vorsitzenden nur für doktrinäre Marxisten Platz sei, wogegen Nichtmarxisten als „Nichtsozialisten“ bezeichnet und eingeladen werden, sich um eine andere Partei umzusehen.

Quelle für Mißverständnisse

Eine Erklärung des Parteivorsit- tenden, die bei Mitgliedern und Wählern einem derartigen Mißverständnis ausgesetzt ist, könnte als Widerspruch aufgefaßt werden zum Seist des Einheitsparteitages von Hainfeld, zu einer stolzen, mehr als

15 Jahre alten Tradition der Einheit, sowie zum Programm 1958.

Gemäß dem Programm 1958 muß es als gleichviel gelten, ob jemand aus marxistischen oder anderen,, zum Beispiel humanistischem oder religiösen Motiven zum Sozialismus gelangt. Wenn nun fast 700.000 Mitglieder, fast zwei Millionen Wähler den Eindruck hätten, sie würden auf den doktrinären Marxismus eingeschworen, so könnten die genannten Zif- Eem eine Korrektur nach unten erfahren.

Die Formulierung von der „klassenlosen Gesellschaft“ erscheint im Programm 1958 vermutlich als Kompromiß gegenüber den „Linken“ in der Partei. Sie muß im Licht jener anderen Formulierung des Programms 1958 interpretiert werden, welche Marxisten wie Nichtmarxisten in der SPÖ ausdrücklich willkommen heißt.

Klarstellung tut not!

Angesichts dieser beiden, wie es scheint, einander widersprechenden Formulierungen des Programms ist es ein interessanter Diskusisions- gegenstand, was unter „klassenloser Gesellschaft“ zu verstehen sei. Dies ist eine wichtige theoretische Frage. Von lebenswichtiger praktischer Bedeutung ist hingegen die rascheste Klarstellung, daß Nichtmarxisten — Humanisten, Christen

— ein im Programm verankertes Recht haben, der SPÖ anzugehören, in ihr Diskussionsfreiheit genießen sowie Funktionen bekleiden können und sollen.

Der Autor dieser Zeilen bekennt sich außer zu Christentum und Sozialismus auch zu einem modernen, kritischen, metephysikfreien Marxismus. Seines Erachtens sollte die Diskussion über Fragen wie die „klassenlose Gesellschaft“ einer Sphäre entzogen sein, im. der man einmal für die große, dann Wieder für die kleine Koalition, pinmal wütend antiikommunistisch, dann für die KP-Wahlempfehlung, einmal für die „Sozialpartnerschaft“, nun für doktrinären Marxismus ist. Die SPÖ braucht Glaubwürdigkeit

Hinter der Tatsache, daß man den Wahlkampf 1970, oder wann immer, nicht mit Plakaten „Mit Pittermann für die klassenlose Gesellschaft“ wird führen können, steht eine sehr ernste Frage. Sie t fordert eine Grundsatadiskussion über Sozialis mus. Erklärungen, die als geradezu mittelalterlich doktrinär verstanden werden können, widersprechen dem Erfahrungsisatz, daß auch Sozialisten Menschen sind und als Menschen irren können. Und was anderes als das heißt „Ideologiereform“?

Nächste Regierungspartei oder Exklusivklub?

Der Sozialismus muß sich immer wieder einer neuen Wirklichkeit stellen und sie diskutieren. Daher muß in der SPÖ Meinungsfreiheit herrschen und Raum sein für alle sozialistischen Schattierungen. Marx hat den demokratischen Sozialismus schon bei dessen ersten Auftreten als große Opposition aller oppositionellen Kräfte gekennzeichnet, vom müdesten Sozialpolitiker zum wildesten Sozialreformer, und dies, sagte Marx, sei das Geheimnis des sozialdemokratischen Erfolges.

Halten wir uns an das Marx-Wort! Haben wir den Mut, eine Sozialistische Partei zu sein auch „für Nichtsozialisten“ — für die vielen, vielen Menschen, die wir noch gewinnen wollen! Sonst würden wir zum doktrinären Exklusivklub statt zur nächsten Regierungspartei.

Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, Ausg. Berlin 1950, S. 93 ff., 128; ders., Der 18. Brumaire, Ausg. Berlin 1953, S. 40 ff.

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