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Reformdiskussion auf der Suche nach ihrem Anlaß

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Der hohe Stellenwert des Austromarxismus innerhalb der marxistischen Lehre rührt daher, daß es ihm gelang, die kosmozentrische Grundauffassung des „reinen Marxismus” wenn schon nicht zu durchbrechen, so doch zumindest mit Bestandteilen der anthropozentrischen Auffassung zu verbinden. Komplizierte Begriffe beschreiben hier einfache Sachverhalte: Der Kosmozentrismus unterstellt, daß der Mensch prinzipiell in derselben Weise wie die übrigen Teile des Kosmos existiert, während die anthropozentrische Auffassung den Menschen als eigenartiges Wesen sieht, das in einer ganz anderen Weise existiert als alles übrige. Der Kosmozentrismus setzt bei der Natur, der Anthropozentris- mus beim Menschen an, um über die Welt zu philosophieren.

Der Marxismus ist in den kommunistischen Staaten länderweise verschieden von kosmozentrischer Grundauffassung dominiert, während der Marxismus in den Programmen der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien des Westens im allgemeinen anthropozentrisch bestimmt ist. Mit ihrem Parteiprogramm des Jahres 1958 versuchte die SPÖ noch einmal, kosmozentrische Auffassungen mit anthropozentrischen Haltungen zu versöhnen, blieb demnach dem Austromarxismus treu.

Was die SPÖ mit einem neuen Programm, das im Frühjahr 1978 beschlossen werden soll, will, ist den Theoretikern noch nicht ganz klar. „Ich sehe weit und breit keinen zwingenden Grund”, so Norbert Leser, „sich schon jetzt auf ein so schwieriges Unternehmen einzulassen”, es sei denn, es soll eine „Huldigung an jenen Mann sein, ohne den der Aufstieg des österreichischen Sozialismus zur Alleinregierung nicht denkbar gewesen wäre”. Aber auch Fritz Klenner hält ein neues Parteiprogramm für verfrüht, zwingt es doch zu einer Klarstellung, „ob wir die Anerkennung der Sozialpartnerschaft und der sozialen Marktwirtschaft, die aufs engste mit ihr verbunden ist, bloß als Zugeständnis an bestimmte historische Umstände… betrachten.”

Prominente Vertreter in der Sozialistischen Partei plädieren für eine Beibehaltung der Kemaussagen des Wiener Programms auch im neuen Parteiprogramm der SPÖ. Justizminister Christian Broda sagt das in einem Beitrag in der „Zukunft” unumwunden, Karl Blecha tritt etwas weniger deutlich dafür ein, daß auch im neuen Programm die Zielsetzung, „die Klassen zu beseitigen”, festgelegt werden muß. Eine besonders radikale Position bezieht Josef Hindels, der vom neuen Programm eine Absage an die soziale Marktwirtschaft, die Sozialpartnerschaft ebenso wie die Zustimmung zu mehr Verstaatlichung fordert. Josef Hindels, Peter Pelinka, aber auch Christian Broda gerieren sich in ihren Diskussionsbeiträgen zum neuen SPÖ-Programm tatsächlich als „Alt- MarXisten” in dem Sinn, als sie selbst die anthropozentrischen Bestandteile des Austromarxismus nicht gelten lassen wollen, den „reinen Marxismus” im neuen Parteiprogramm stärker prononciert wissen wollen.

Der Koordinator des mm diskutierten SPÖ-Programms, Egon Matzner, vertritt eine mittlere, die „neomarxistische” Linie, der heute auch Bruno Kreisky mehr Sympathie als etwa noch vor zehn Jahren einzuräumen gewillt ist. Der Neomarxismus ist eindeutig von einer anthropozentrischen Grundauffassung bestimmt. In den meisten seiner bisherigen Veröffentlichungen betont Egon Matzner die Einzigartigkeit des Menschen und in diesem Zusammenhang auch dessen Entfremdung. Er geht, wie das auch unter den Neomarxisten im kommunistischen Ostblock gelegentlich getan wird, noch einen Schritt weiter: Entfremdung braucht es nicht nur im Kapitalismus, sondern kann es auch in sozialistischen Gesellschaften geben.

Der Sozialismus, wenn schief angewandt, erzeugt eine tyrannische Bürokratie, und diese ist im Hinblick auf die Entfremdung ebenso schlimm wie der extreme Kapitalismus. Der Neomarxismus, wie ihn SP-Programm- Koordinator Matzner vertritt, ist der philosophischen Richtung des Existentialismus nicht unähnlich und insofern konnte im „bürgerlichen Lager” da und dort der Eindruck entstehen, es gehe nun Matzner und Genossen um ein liberaleres SP-Programm. Dem aber ist nicht so: Der Neomarxismus bleibt trotz allem tief sozialistisch - und zwar nicht nur in seiner politischen Haltung, sondern auch als Philosophie.

Denn auf die grundlegenden Marx- schen Begriffe und Sätze über den Primat der Gesellschaft und auf den Klassengedanken wird auch hier nicht verzichtet Wenn die Neomarxisten sagen, daß die Gegenstände erst im Zusammenstoß zwischen der Natur und dem arbeitenden Menschen entstehen, soll man dabei nach ihnen nicht den Einzelmenschen, sondern die Klasse verstehen. Von einem Subjektivismus, Individualismus und ähnlichem kann bei ihnen überhaupt keine Rede sein. Wir haben es ohne Zweifel mit einem sozialistischen Denken zu tun.

Die Diskussion um das neue Parteiprogramm der SPÖ ist, wie mir scheint, eine Auseinandersetzung zwischen den Alt-, de’n Austro- und den Neomarxisten. Und angesichts der Schwierigkeiten, in denen die Regierungspartei und die Bundesregierung schon seit einiger Zeit stecken, dürften in dieser Auseinandersetzung noch am ehesten die Austromarxisten rund um Christian Broda reüssieren, dürfte man sich bei den Programm-Aussagen auf die mittlere Position zwischen „reinem Marxismus” und Neomarxismus reduzieren. Dann aber bleibt die Frage des Salzburger Marxismus-Theoretikers Norbert Leser: Fehlen nicht alle Voraussetzungen für ein neues Programm? Diese Frage stellte übrigens schon Karl Czernetz, als im Jahr 1958 ein neues SP-Programm diskutiert und schließlich beschlossen wurde.

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