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Irreführung als Strategie

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Vor einiger Zeit war in ein und derselben Nummer der „Arbeiter-Zeitung“ (17. 10. 1976) sowohl die Feststellung des Bundeskanzlers (als Parteivorsitzenden), daß „die katholische Intelligenz als einziger Gesprächspartner“ bleibe, der Anspruch auf eine Auseinandersetzung über moderne Gedanken erheben könne, als auch die ausführliche, bevorzugt placierte Würdigung des gerade für diesen Dialog sehr wichtigen Buches Günther Nennings, durch den Vorsitzenden des Programmausschusses der SPÖ, Egon Matzner.

„Der“ Sozialismus bezeichnet heute wie eh und je eine weite Palette gesellschaftsphilosophischer bis pragmatischer Positionen sehr unterschiedlicher geistiger Herkunft. In christlich-demokratischen Volksparteien ist heute die gesellschaftspolitische Grundsatzdebatte eher geeignet, die divergierenden wirtschaftlichen, regionalen, lokalen und anderen Interessen gegenüber dem Prinzipiellen zu relativieren und damit verbindend zu wirken. In sozialistischen Massenparteien hingegen läßt die Diskussion prinzipieller Positionen die sehr unterschiedlichen und nicht selten tatsächlich unvereinbaren und daher in historischer Fehde gegenein--anderstehenden Richtungen aus den Reservaten sozialistischer Literatur in das Licht der politisch interessierten Öffentlichkeit treten.

Über das konsequenteste und logisch geschlossenste Lehrgebäude unter den sozialistischen Gruppen verfügen nach wie vor die Marxisten, ungeachtet des Umstandes, daß sich heute auch ein den Menschen, seine Freiheit und seine Würde verachtendes Machtsystem auf diesen Denker des vorigen Jahrhunderts beruft. In der international angesehenen Variante des Austromarxis-mus hat er die Entwicklung des Sozialismus in Österreich dominiert wie kaum in einem anderen westlichen Land. Damit standen die österreichischen Sozialisten so weit „links“, daß schon vor dem Zweiten Weltkrieg für den Kommunismus hierzulande kein Platz mehr blieb.

Obwohl sich auch der österreichische Sozialismus inzwischen zusehends pluralistischer aufgefächert hat, und heute zweifellos manchen interessanten Gesprächspartner nichtmarxistischer Orientierung bietet, zeigt der marxistische Flügel eine nach wie vor erstaunliche Vitalität und eine auch die österreichische Sozialdemokratie immer noch stark prägende Note. Zu ihm zählt auch Günther Nenning, der sich überdies durch eine herzhafte Offenheit auszeichnet. Sein jüngstes Buch beweist einmal mehr, daß die Verankerung im Marxismus nicht auf die Generation eines Josef Hindels beschränkt ist, der erst in jüngster Zeit wieder ein Beispiel scharfer prinzipieller innersozialistischer Auseinandersetzung lieferte. Hindels sieht aus „linkssQzialistischer Sicht“ folgende entscheidende Meinungsverschiedenheit: „Entweder hält die SPÖ an der engen, die ideologischen Grenzen verwischenden Kooperation mit dem als Sozialpartner1 kostümierten Klassengegnerfest oder sie setzt ihre Kraft ein, um die Gesellschaft im Sinne sozialistischer Grundsätze zu verändern. Beides zugleich ist ebenso unmöglich wie gebratenes Eis“ („Die Zukunft“, 2011976).

Günther Nenning - inzwischen längst vom „Wurschtl“ (Bruno Kreis-ky) zu einem der „verläßlicheren gesellschaftlichen Seismographen unter den deutschsprachigen Publizisten“ (Egon Matzner) gemausert - denkt hier um vieles nüchterner: er legt sehr überzeugend dar, daß die Sozialdemokratie die spezifische Form des Sozialismus in den hochentwickelten Ländern des Kapitalismus ist. Durch die Zusammenarbeit mit dem Kapitalismus werde aber nicht „Verrat“ betrieben, sondern werden „auf sehr realistische Weise“ die Weichen für die Zukunft gestellt. Gerade weil der Kapitalismus durch Sozialdemokratie in die Zukunft „transportiert“ wird, könne er „unterwegs optimal verändert werden“, er könne auf „möglichst friedliche, demokratische, menschliche, rationelle Weise fortentwickelt werden - bis er fort ist aus der Geschichte“. Bei den gegebenen Kräfteverhältnissen könne die Sozialdemokratie nur auf diese Weise Agentur zur Vorbereitung des Sozialismus sein.

Für Nenning ist „Reformpolitik keineswegs weniger als Klassenkampf, sondern vielmehr ein „besonders hartnäckiger“. Nenning will Karl Marx dorthin zurückholen, „wo er gleichfalls hingehört“: zur Sozialdemokratie, von der als „bravem Maulwurf Zentimeter um Zentimeter bürgerliche Eigentumsformen untergraben werden - alles als „langer Marsch auf rosa Pfoten“, um das Bürgertum nicht zu erschrecken. Die Sozialdemokratie erreiche ihr Ziel durch Bündnisse, Wechsel der Bündnisse, Kompromisse, „give and take“, sie mache sich nützlich, unentbehrlich; und so gelange sie zum Wendepunkt, an dem aus Schwäche Stärke wird und das Kräfteverhältnis umschlägt zu ihren Gunsten.

•Das sei die aus der historischen Erfahrung destillierte Essenz der Zusammenarbeit und „keine Idylle, sondern Strategie“. Auf ihrem friedlichen langen Marsch werde die Machtfrage ununterbrochen gestellt. Nenning wird von Matzner nur dahingehend korrigiert, daß die Automatik der sozialistischen Entwicklung, die Nenning suggeriert, nicht existiert: was Sozialdemokraten machen, muß nicht immer Sozialismus sein. Wir gehen einen Schritt weiter: es gibt auch keinen historisch zwingenden Weg zur sozialistischen Gesellschaft,. Sozialismus ist ein von der Menschheit und insbesondere auch von der österreichischen Bevölkerung durchaus vermeidbarer Irrweg.

REALISTEN ODER VERRÄTER? Die Zukunft der Sozialdemokratie. Von Günther Nenning. Bertelsmann-Verlag, München, 225 Seiten, öS 229.50.

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