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Nenning-Sozialismus

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ANSI HU ss AN DIE ZUKUNFT. Österreichs unbewältigte Gegenwart und Vergangenheit. Von Gunther N e n n i n g. Österreich-Profile, Europa-Verlag, Wien. 206 Seiten. Preis “4 S.

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ANSI HU ss AN DIE ZUKUNFT. Österreichs unbewältigte Gegenwart und Vergangenheit. Von Gunther N e n n i n g. Österreich-Profile, Europa-Verlag, Wien. 206 Seiten. Preis “4 S.

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Günther Nenning zog ursprünglich aus, um für die interessanten „Österreich-Profile“ einen Beitrag zu dem zu leisten, was man heute gerne mit einem aus der Bundesrepublik Deutschland übernommenen Modewort „Bewältigung der Vergangenheit“ nennt. Einmal aber auf dem Kriegspfad, ruhte er nicht eher, bis er das ganze politische Conflteor eines unkonventionell denkenden österreichischen sozialistischen Intellektuellen abgelegt hat. Als solches ist es für Freunde und Gegner sowie für alle Österreicher, die in der Politik noch eine geistige Auseinandersetzung sehen, beziehungsweise sehen wollen, von Interesse.

Nenning hat als Form die Provokation gewählt. Diese liegt ihm besonders. Das darf seine Leser nicht erschrecken. Auch tun sie gut, sich da und dort nicht allzu laut zu entrüsten. Nicht unweit lauert bestimmt der Verfasser, der seine Freude daran hat, wenn er sieht, wie allzu harmlose Zeitgenossen sich sträuben, durch diesen oder jenen der bingehaltenen Reifen zu springen.

Seine Parteifreunde waren so humorlos. Sie haben dem Verfasser das Wort vom „Habsburgerkaniba-lismus“ der SPÖ — in einem sehr lesenswerten Kapitel, welches für eine gemeinsame Tradition statt für Traditionen plädiert — schwer übelgenommen. Freilich wirkte es in der „Junischlacht“ des Jahres 1963 wie ein Rohrkrepierer. Auch was Nenning gegen den Vandalismus der Wiener Gemeindeverwaltung schreibt, die alles Alte in ihrer Stadt verfolgt und den Weg zur Weltstadt mit der Länge der „Peitschenleuchter“ mißt, wird im Rathaus nicht nur Entzücken auslösen. Und anderes mehr. Deswegen wollen wir in diesem Fall bessere Nehmer sein und nur ganz bescheiden anmerken, daß zum Beispiel Nennings Maxime, in der Ersten Republik stand im austro-marxisti-schen Lager Österreich (Seite 37), vor der Geschichte kaum bestehen kann.

Uberhaupt der Austro-Marxismus. Er beschäftigt Nenning intensiv. Und hier ist er auch am ernsthaftesten; hier kennt er nicht, wie so oft, ein „Einerseits“ und ein „Anderseits“. Nicht nur in der Analyse der „Väter“, sondern auch was seinen persönlichen Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus in Österreich betrifft. Nenning tritt auf als Herold einer Schule, die man vielleicht einmal als Neo-Austro-Marxismus bezeichnen wird, wenn man sich schon nicht entschließen kann, von „Nenning-Sozdalismus“ zu reden. Nennings „soziale Demokratie“ übernimmt nur die alte, von Otto Bauer erkannte, aber nicht in praktische Politik umgesetzte Formel, „ohne ein kräftiges Stück Mittelschichten, ohne ein kräftiges Stück Bauernschaft keine sozialdemokratische Mehrheit“ (Seite 36). Der Verfasser will nichts anderes, als daß die Partei, seine Partei, diese Erkenntnis gleichsam „im Nachziehverfahren“ politisch realisiert und so ihren „Anschluß an die Zukunft“ findet. Als bescheidener Theoretiker will er dabei nichts anderes, als „mit Ungeduld abwarten“, bis die heute das Feld beherrschenden Pragmatiker mit ihren Kunstgriffen am Ende sind und wieder Strategie an Stelle des Taktierens von einem Tag auf den anderen tritt.

Ob Nennings Strategie zum Zuge kommt, hängt freilich auch von den Männern der Volkspartei ab. Es fragt sich, ob sie so gefällig sind, das Terrain in der Mitte zu räumen und die Achse der Politik ihrer Partei so weit rechts zu placieren, daß Nennings Parteifreunde nachstoßen können. Und was wäre, wenn die Volkspartei wieder, gemäß dem Gesetz, nach dem sie einstens angetreten, als soziale Volksbewegung gar zum Gegenstoß antreten würde?

Wenn Nenning in seiner Erforschung der österreichischen Geschichte eine Scheidung zwischen bösen Nationalsozialisten und braven Großdeutschen durchführt, so ist dies nur recht und billig. Freilich auch ein bißchen zu allgemein. Es gab so Anno 1930 politisch recht unerfreuliche schwarzweißrote Rauschebärte, Ludendorffianer und gar nicht so unsympathische junge Nationalsozialisten, die gerade aus Ablehnung der Kyffhäuserwelt ihrer Eltern und aus dem Erwachen sozialer Gesinnung dem Trommler aus Braunau folgten. Aber lassen wir das. Wenn Nenning aber so weit geht, die Anschlußparole 1848 und 1918 für gut, für „fortschrittlich“ und nur 1938 für falsch (und heute für überholt) zu halten, so reflektiert hier zunächst die „schwarzrotgoldene Nestwärme“ der „Neuen Zeit“ in Graz, aus deren Kreis der Verfasser hervorgegangen ist. Darüber hinaus wird aber das Fehlen eines lebendigen österreichischen Geschichtsbewußtseins deutlich, das so manche Freunde bei Nenning schon öfter betrübt bemerken mußten.

Nenning gehört bestimmt nicht zu den schlechtesten Österreichern der Gegenwart. Er ist es aber vor allem mit dem Kopf. Das Herz beibt dabei kühl. Aber auch sein Kopf, sein kritischer Kopf — gerade der — müßte ihm sagen, daß die Eigenständigkeit Österreichs den Schlüssel zur Freiheit und Ordnung in Mitteleuropa darstellt. So war es gestern, so ist es heute, so wird es noch lange Zeit sein. Gerade unter diesem Gesichtswinkel sehen wir auch heute die Neutralität als Erfüllung einer alten Aufgabe in neuer Form und nicht nur als „Kaufpreis“.

Trotzdem sei dem Verfasser „vergeben“. Er bietet nämlich an anderer Stelle, gleichsam als „tätige Reue“, eine Antwort auf die von Zeit zu Zeit die Gemüter erhitzende Frage über den Begriff „Nation“, dem wohl alle, die sich zu diesem Land bekennen, unbeschadet ihrer politischen Einstellung, zustimmen können. Wir jedenfalls sind bereit dazu. Ob Nenning bei den in Reserve gehaltenen Koalitionsfreunden mit der Kornblume im Knopfloch damit Glück hat? Er soll es einmal bei Herrn Peter versuchen. Ein solcher Versuch wäre lehrreich — und politisch außerordentlich interessant

Auch zur Politik des Tages entschlägt sich Nenning nicht seiner Aussage. Er erhebt hier den Ruf nach einer Anpassung der Verfassung an die Wirklichkeit, da er, nicht ganz zu Unrecht, eine Anpassung der Wirklichkeit an die Verfassung für utopisch hält. Seine Vorschläge für eine eventuelle „Proporzregierung“ korrespondieren gar nicht so schlecht mit Gedanken, wie sie von seiten der Volkspartei in der Broschüre von Withalm und Pisa, „Eine Politik für das Jahr 1970“, vorgetragen werden. Sein Vorschlag, wie bei einem solchen „totalen Proporz“ verhindert werden könnte, daß einer kleinen Partei die Schiedsrichterrolle über die großen zugespielt wird (Zweidrittelmehrheit bei Abstimmungen), sind ernstlich zu prüfen und wären geeignet, die bisher vorhandenen berechtigten Bedenken gegen eine solche „Allparteienregierung“ zu mildern.

Noch so mancher Faden könnte aus dem runden Knäuel der Gedanken und Maximen Nennings hervorgezogen werden. Ja, manche Zustimmung, Ergänzung oder Erwiderung müssen wir uns hier versagen. Wenn uns in dem vorliegenden Buch etwas abgeht, so ist es mitunter vielleicht ein letzter Ernst (er müßte gar nicht „tierisch“ sein). Nenning beendet sein Buch mit einer kleinen „Glasperlenspielerei“, mit einer artistisch-intellektuellen Volte: Ob das, was ich geschrieben habe, sich durchsetzt, ist gar nicht so wichtig; dem Verfasser hat das Schreiben jedenfalls Spaß gemacht... Da halten wir es lieber mit dem Lateiner: Dixi et salvavi animam meam. Ich habe geschrieben und meine Seele gerettet.

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