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Nennings große Vision

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Nein: es war kein Mißverständnis! Gemeint ist der Titel „Nenning-Sozialismus“, den der Rezensent über seine Kritik von Günther Nennings letztem Buch „Anschluß an die Zukunft“ („Die Furche“, Nr. 5/ 1964) setzte und der ihm die Ehre der namentlichen Erwähnung im Vorwort des vorliegenden Buches und gleichzeitig einen freundschaftlichen Ordnungsruf eingetragen hat. Unter „Nenning-Sozialismus“ verstand der Rezensent freilich nie einen Hausaltar, den sich Günther Nenning für die Verehrung seines privaten Sozialismus gezimmert hat, sondern, daß er den Mut aufbrachte und aufbringt, den Sozialismus in seiner Höhe und Tiefe im Jahr 1965 neu auszuloten, um sich und seinen Freunden zu einem echten Anschluß an die Zukunft zu verhelfen. Wäre der Titel „Nenning-Sozialismus“ nicht schon vergeben, mit viel größerem Recht noch hätte er über diese kritische Vorstellung des Opus Nr. 2 aus der Feder Nennings gesetzt werden können.

Was im „Anschluß an die Zukunft“ in den ersten Spuren zu erkennen war, wird in dem vorliegenden Buch, das nicht ohne zeitgenössische Koketterie als „Versuch“ vorgestellt wird, in kräftigen Konturen ausgeführt: Günther Nennings Vision einer neuen Sozialdemokratie. Dem Autor geht es selbstverständlich nicht nur um eine Namensänderung der SPÖ. Auch hat Nennings Sozialdemokratie mit den alten österreichischen Sozialdemokraten der Ersten Republik kaum mehr als den Namen gemeinsam. Jene neue Sozialdemokratie soll „ein Vogel aus dreierlei Fleisch“ (S. 123) sein: Sozialismus, Demokratie. Christentum. Die christliche, soziale Demokratie, der nach Günther Nenning allein die Zukunft gehört, will zunächst theoretisch anerkennen, was in der Praxis und Pragmatik der sozialistischen Parteien Mitteleuropas bereits gang und gäbe ist: Die Begegnung mit dem Christentum. Aber es soll nicht bei einem höflichen Gruß bleiben. Der Verfasser will Größeres. Er verlangt mehr als „eine respektvolle Neutralität“, er predigt den Ubergang des Christentums „in seine sozialistische Phase und den Übergang des Sozialismus aus seiner prome-theisch-atheistischen in seine konstantinisch-christliche Phase“ (S.115). Was er anstrebt und wofür er auch, seine eigene Person betreffend, Konsequenzen gezogen hat. ist die Durchdringung von Sozialismus und Christentum.

Aber damit nicht genug. Er möchte auch den unfruchtbaren Streit zwischen „Marx-Tötern“ und „Marx-Rettern“ im Sozialismus der Gegenwart beenden, d. h. auf eine höhere Ebene heben. Wie ein Haruspex beugt sich Nenning daher über die Eingeweide des toten Marx, betrachtet kopfschüttelnd die Leber, runzelt beim Anblick der Nieren gedankenvoll die Stirne, legt den Magen verächtlich zur Seite und strahlt bei dem, was er als Herz erkennt. Ergebnis dieser Sektion: Die Utopie und Empirie Marxens sollen bei Ausscheidung der zeitgebundenen spätbürgerlichen Ideologie in das Gedankengebäude der neuen christlichen Sozialdemokratie eingebaut werden. Das mag manche Vorkämpfer eines revisionistisch -humanistischen Sozialismus (Norbert Leser) enttäuschen, dürfte aber auf der anderen Seite die Vertreter der alt-marxistischen Linie (Josef Kindels) kaum besänftigen. Nennings Option für eine „dritte Position“, die er hier erstmals ausspricht, hat freilich — mutatis mutandis — ein großes Vorbild im österreichischen Sozialismus: Otto Bauers Zweifrontenkrieg gegen Bernsteins Revisionismus und Max Adlers marxistischen Integralismus. Dies in aller Klarheit auszusprechen, hütet sich der Verfasser freilich. Er will zu allem anderen nicht der Tempelschändung geziehen werden.

Daß er aber nicht timid ist, beweist er zu guter letzt, als er das Konzept seiner neuen christlichen Sozialdemokratie auch gleich einer Laterne in das Ostfenster des Hauses Österreich stellt. Er scheut nicht die persönliche Ansprache der um neue Horizonte ringenden humanistischen Kommunisten der nachrückenden Generation in den Volksdemokratien. Er ermuntert sie. einen Schritt näherzutreten, indem er sich seinerseits nicht scheut, dasselbe zu tun.

Alles In allem: Material genug für Mißverständnisse, Fehlinternretatio-nen und Unterstellungen. In *-*ihe-ren Zeiten — und sie sind noch gar nicht so vergangen — hätte sich Nenning nur aussuchen können, auf wessen Scheiterhaufen er verbrannt werden will. Doch die Zeiten sind friedlicher geworden. Falsch: Die Zeitgenossen sind nur gegenüber Abenteuern des Geistes abgestumpfter. Es echauffiert sich niemand gerne mit dickem Bauch.

Um so mehr ist neben der geistigen Leistung dieses „Versuches“, dem Sozialismus neue, unkonventionelle Wege in die Zukunft zu erschließen, die Hartnäckigkeit des Unterfangens anzuerkennen. Neue Wege? Am Platz treten ist doch viel sicherer und bequemer.

Wiederum ist das Buch eine hohe Schule der Dialektik. Der Verfasser steht mit sich selbst in einem ständigen Streitgespräch. Dabei ist das vorliegende Buch weniger „artistisch“ als das Opus Nummer 1.

Und „ernster“. Dazu ist auch aller Grund. Zog doch Nenning diesmal aus, um — wie er schreibt — „seine sozialistische Seele zu retten“.

Von katholischer Seite sollte alles begrüßt werden, was dem Gespräch zwischen Christen und Sozialisten frische Impulse gibt. Von der oben skizzierten Forderung nach einer „konstantinisch-christlichen Phase des Sozialismus“ möchte man den ersten Teil etwas korrigieren. Ein neuer Konstantin? Nach ihm ist kein Bedarf. Die Kirche und die Christen haben im letzten Jahrhundert genug damit zu tun gehabt, und sie sind noch immer damit beschäftigt, aus dem Schaffen des ersten Konstantin und seiner späten Erben herauszutreten. Einer freien Kirche in einer freien Gesellschaft gelte unser aller Bemühen.

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