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Himmlisches und irdisches Jerusalem

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ad 2.: Die Annahme, daß der Atheismus nicht lebensnotwendig für den Marxismus, sondern nur eine Folgeerscheinung des kirchlichen Versagens in der Sozialfrage ist, beruht gleichfalls auf einer geistig falschen Einschätzung des Marxismus. Die Linkssozialisten glauben, daß die veränderte Haltung der Kirche zur Sozialfrage auch die Haltung des Marxismus zur Religion geändert habe. Nun ist aber für den Marxisten auch heute noch die Erklärung von Karl Marx über die Religion maßgebend. Für Marx ist die Religion „das Opium des Volkes“. „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“ Zugegeben, daß Marxens These, die Religion sei nur eine Widerspiegelung äußerer Mächte und werde mit dem Verschwinden dieser Mächte gleichfalls vorübergehen, historisch nicht haltbar ist, doch wie viele Thesen von Karl Marx sind heute wissenschaftlich überholt und werden von den Marxisten als eine Art von Dogmen beibehalten. Doch wesentlicher ist, daß die Tatsache nicht wegdiskutiert werden kann, daß der Christ nach dem himmlischen, der Marxist aber nach dem irdischen Jerusalem strebt. Spätestens am Totenbett scheiden sich die Geister. Weil sie sich aber hier scheiden, müssen sie sich auch im Leben scheiden. Ob wir uns so wichtig nehmen, daß alles Sein und Wirken nur auf dieses irdische Leben ausgerichtet ist, bleibt eine Grundfrage des Christentums.

Keine Kollaboration mit dishumanistischer Macht ad 3.: Das Verlangen nach einem Wandel der katholischen Kirche ist nicht nur auf die Linkskatholiken beschränkt. Das Zweite Vatikanische Konzil kam diesem Verlangen in vielen Punkten nach. Daß die katholische Kirche -schwere Fehler in der Vergangenheit begangen hat, wird von ihr selbst offen eingestanden. Sie wird auch in Zukunft vor Fehlern und Irrtümern nicht gefeit sein, denn sie hat Anteil an der menschlichen Entwicklung und damit auch an den Irrtümern, die dieser kohärent sind. Schlimm wäre es nur, wenn die katholische Kirche den gleichen Fehler beginge, der ihr von den Linkskatholiken in der Vergangenheit so übelgenommen wurde: die Kollaboration mit einer Macht, deren dishumanistische und unmoralische Züge im Laufe von 50 Jähren immer wieder zum Durchbruch kamen.

Die Kirche wird selbstverständlich versuchen, eine völkerrechtliche Basis zu Anden, ihren Gläubigen in den kommunistischen Ländern eine Möglichkeit zur besseren Religionsausübung zu schaffen. Sie kann auch ein gutes neutrales Verhältnis gewinnen mit kommunistischen Staaten, in denen die Religionsfreiheit nicht nur auf dem Papier steht. Ein solcher Staat ist derzeit nur Jugoslawien. Die Kirche kann sich auch am Kampf für den Frieden und die Menschenrechte und gegen Hunger und Rassendiskriminierung beteiligen. Hier geschieht es allerdings oft, daß die Stellungnahme mißbraucht wird. Viele Worte haben nicht überall die gleiche Bedeutung. Die Sowjets beispielsweise bezeichnen auch ihren Überfall auf die CSSR als ein Werk des Friedens. Hier sei darauf hingewiesen, daß die kirchliche Stellungnahme gegen den Vietnamkrieg -sehr eindeutig war, während die Verurteilung des Überfalls auf die Tschechoslowakei in wesentlich milderer Form erfolgte. Der Grund ist einleuchtend: In den USA -besteht keine Gefahr, daß die Katholiken wegen der Vietnam-Stellung des Vatikans Verfolgung leiden, wohl aber müßte dies die Kirche in den Staaten des Warschauer Pakts -bei einem allzu harten Urteil über ihr Vorgehen befürchten. Vielleicht versteht man nun auch besser, warum Pius XII. keine flammenden Bannflüche gegen Hitler schleuderte.

Der „pervertierte“ Katholizismus

Es liegt im Wesen des Christentums, daß es den Staat und die Gesellschaft bejaht. Die Kirche ist an kein bestimmtes System gebunden, doch aus der geschichtlichen Erfahrung heraus darf es nicht mehr mit einem System kollaborieren, das die Menschenrechte und die persönlichen Freiheiten zwar in der Staats- verfassungj -nicht aber in der Realität anerkennt.

Für die Kirche gibt es den Begriff einer unvermeidbaren Entwicklung nicht. Sie hat schon viele unvermeidbare Entwicklungen überstanden. Ihre wichtigste Aufgabe i-st es, den Menschen das Heil zu predigen. Deshalb muß sie jeweils jenen Wandel in ihrer Organisation und ihrer Lehrverkündigung vollziehen, die es dem einzelnen auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich macht, an das verkündete Heil zu glauben. Keineswegs aber muß sich die Kirche politischen und ökonomischen Heilslehren anpassen, weil es eine Gruppe von progressiven Katholiken verlangt. Was der Linkskatholizismus für dessen führende Köpfe in Wahrheit bedeutet, das gab Wilfried Daim im letzten „Forum“ (Heft 178, Oktober 1968) zum besten. Er stellte die Enzyklika „Humanae vitae“ auf die gleiche Ebene wie den Einmarschbefehl des sowjetischen „ZK“ in die Tschechoslowakei und fordert deshalb Papst Paul VI. auf, zurückzutreten. Ein solches Verhalten kann man jedoch nicht mehr als progressiven, sondern höchstens als pervertierten Katholizismus bezeichnen.

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