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Diamat
Der sowjetrussische dialektische Materialismus. Von J. M. Bochenski. Sammlung Dalp, Band 69, Verlag A. Franke AG, Bern 1950. 210 Seiten
Der sowjetrussische dialektische Materialismus. Von J. M. Bochenski. Sammlung Dalp, Band 69, Verlag A. Franke AG, Bern 1950. 210 Seiten
In seinem .Gestaltwandel der Götter“ begriff Leopold Ziegler auch die atheistische Phase des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Religionserscheinung. Die Philosophie dieser .atheistischen Religion“ oder besser noch ihre „Dogmatik“ trägt im heutigen Rußland den Namen „Diamat“. Unter dieser Kurzform kennt jeder Russe die Lehre des dialektischen Materialismus.
Die genaue Kenntnis und das Verständnis dieser Lehre ist für den Westeuropäer — und nicht allein für diesen — angesichts der jüngsten historischen Entwicklung zur unbedingten Notwendigkeit geworden. J. M. Bochenski (Universität Fribourg), der uns schon durch seine ausgezeichnete „Europäische Philosophie der Gegenwart“ (Sammlung Dalp, Band 50) bestens bekannt ist, gibt uns nun in kon-zistester Form eine Gesamtdarstellung der sowjetischen Staatsphilosophie, wie sie hauptsächlich von Lenin und Stalin im Anschluß an die Lehren Marx' und Engels' weitergebildet wurde. Seine Arbeit gliedert sich übersichtlich in einen historischen und systematischen Teil. Er untersucht zunächst die westlichen (Hegel, die Linkshegelianer Feuerbadi, Marx, Engels, den naturwissenschaftlichen Materialismus von Diderot bis zu den Positivisten, Empiriokritizisten und Pragmatisten der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts) und die östlichen Quellen (die russischen Sozialrevolutionäre und Atheisten, die Nihilisten und Populisten, die russischen Marxisten vom Schlage Plechanows, und vor allem die überragende prometheisch gestaltende Kraft Lenins) und stellt die vier Phasen der SowjetPhilosophie seit 1917 charakterisierend dar. Im systematischen Teil geht der Verfasser im einzelnen auf die Grundpositionen und Disziplinen dieser hauptsächlich von Lenin gestalteten Philosophie mit bewundernswerter Sachlichkeit kritisch ein. Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigt uns, daß wir es im sowjetrussischen dialektischen Materialisums mit einem Erzeugnis zu tun haben, das zu „einem uns völlig fremden Kulturkreis“ gehört, daß diese Spielart des dialektischen Materialismus eine reaktionäre Philosophie ist, die an den längst überholten materialistischen und hegelianischen Positionen des vorigen Jahrhunderts mit geradezu religiöser Inbrunst dogmatisch festhält, die in ihrer Primitivität weder den methodischen noch den logisch-erkenntnistheoretischen Anforderungen europäischen Philosophierens gewachsen ist, trotz manch positiver Ansätze (Betonung des Realismus, Festhalten an einer absoluten Wahrheit, Berufung auf den Gemeinsinn und gesunden Menschenverstand).
Jeder ehrliche Denker, der nicht sowjetischer Propagandist sein will, insbesondere jeder Christ, wird dem Schlußurteil Bochenskis zustimmen müssen. Schade, daß der Raummangel den Verfasser dazu zwang, seine auf umfassendem und nahezu vollständigem Quellenmaterial beruhende Arbeit hinsichtlich mancher Problemkomplexe (Idealismus-Hegel, Positivismus, Soziologie usw.) da und dort allzusehr zu vereinfachen. Wir können nur wünschen, daß sein Buch in viele Hände kommt und mit der Aufmerksamkeit studiert wird, die es verdient.
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