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Keiner kannte Marx wie er

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In der sowjetischen Enzyklopädie, in der über die Begründer und Kenner der marxistischen Philosophie eingehend berichtet wird, steht ein ausführlicher Artikel über einen westlichen Autor: P. Gustav Andreas Wetter. Es. wird ihm hohes Lob gespendet, weil er wie wenige andere die russische Philosophie kennt und weil er sich in der Darstellung des dialektischen Materialismus jeder unwissenschaftlichen Polemik enthält. Nur ein Fehler wird ihm angekreidet: Er steht im Dienst der vatikanischen Diplomatie.

P. Gustav Wetter, am 4. Mai 1911 in Mödling geboren, vorige Woche -am 5. November- in Rom gestorben, war einer der ganz wenigen, die den sowjetischen Dialektischen Materialismus nicht erst aus der Revolution von 1917 erklärten, sondern der weit in die Geschichte der russischen Philosophie zurückgriff. Darum ist es verständlich, daß sein 1948 veröffentlichtes Hauptwerk „Der sowjetische Dialektische Materialismus" ein Standardwerk darstellt und in alle Weltsprachen übersetzt wurde. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus führte P. Wetter dazu, an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom ein eigenes Institut für Marxismusforschung aufzubauen, das von Fachleuten aus aller Welt besucht wurde.

P. Wetter beschränkte sich aber keineswegs auf die wissenschaftliche Forschung. Von 1943 bis wenige Jahre vor seinem Tod war er ein hochgeschätzter Lehrer am Orientalischen Institut und an der päpstlichen Universität Gregoriana, wo Studenten aus 100 Nationen zu seinen Schülern zählten. In den kritischen Jahren der Bedrohung durch die marxistische Ideologie wurde P. Wetter in fast alle Länder Europas zu Vorlesungen und Vorträgen gerufen. Man wußte, daß kaum ein anderer den sowjetischen Dialektischen Materialismus so kannte wie er. Fachkollegen aus Moskau, Leningrad, Budapest und Prag standen mit ihm in Verbindung und besuchten ihn in Rom.

Als der „reale Sozialismus" zusammenbrach, war auch P. Wetter am Ende seiner Kraft. Manchmal bedauerte er es, daß er sein Wissen nicht mehr für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen konnte. Aber er war dankbar, daß er die Überwindung des sowjetischen Dialektischen Materialismus erleben durfte. Dafür hatte er sein Leben eingesetzt.

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