6728753-1965_42_10.jpg
Digital In Arbeit

DER TOD HAT VERSPÄTUNG

Werbung
Werbung
Werbung

Wer erinnert sich noch an den jungen Schriftsteller, der vor zwei Jahren unter dem Titel „Der Tod hat Verspätung“ seinen ersten Roman herausbrachte? Der Hauptheld dieses dickleibigen Buches ist ein Arzt, der Höhepunkt geladen mit gemeinverständlichem Optimismus, und das Ende ein Triumph gängiger Hoffnung. Uber Nacht wurde der Titel zu einem Verkaufsschlager und der junge Schriftsteller weltberühmt. Sein Buch war kein Meisterwerk, er wußte es selbst. Er kannte die Mängel des Stils, des Aufbaus, der Charakteristik, und es fehlte nicht an schlechten Kritiken. Aber er hatte ein Thema aufgegriffen, das auf der Straße lag und alle Menschen anging: Lebensverlängerung durch Affendrüsen. Er hatte seine Theorie in Figuren und Handlungen umgesetzt und nicht versäumt, einen Tropfen Sex hineinzumischen und alle nur möglichen Aspekte des Problems zu streifen, vom theologischen bis zum bevölkerungspolitischen — ein Weitblick, der einem Bestsellerautor eigen sein muß.

Das Buch wurde so gut verkauft wie kaum eines zuvor in den letzten zwanzig Jahren. Überall sprach man davon, jeder wollte länger leben. Auf dem Schreibtisch des jungen •Schriftstellers, den er sich mit dem ersten Honorar erstanden hatte, um daran ein zweites, besseres Buch zu schreiben, häuften sich die Leserbriefe. Er beantwortete sie alle. Es häuften sich handgeschriebene, getippte, gedruckte Einladungen und Bitten, in diese und jene Stadt zu kommen, um aus seinem Werk zu lesen. Er war stolz. Der Verlag schickte ihm seinen besten Manager, einen Mann, dessen Polstersitz hinterm Lenkrad seines Wagens von einem Spezialisten für nicht häufig vorkommende Körperfülle umgebaut worden war. Mit ihm reiste der junge Schriftsteller über Land.

Er las im Rathaus seines Heimatortes, in den Buchhandlungen aller großen Städte, vor den Mikrophonen sämtlicher Rundfunkanstalten. Er las an Universitäten, Ober-, Mittel-, Volks- und Hilfsschulen, vor Krankenschwestern, Masseuren, vor Hebammen, Müttern, Gynäkologen und Bakteriologen, vor Pfarrern, Mönchen, Nonnen und Philosophen, vor Abstinenzlern, Heilsarmisten, Gymnastikern, Vegetariern und

Jogaanhängern, vor Walzwerkarbeitern, Partei- und Gewerkschaftssekretären, vor berühmten Stammtischen und der akkredierten Auslandspresse, er las vor Jungfrauen-, Akademiker-, Fußball-, Pingpong-, Kegel-, Krieger- und Frauenboxvereinen, vor Kriegsdienstverweigerern, Atom-gegnern und Kriegshinterbliebenen und häufig auch in Jazzkellern. Alle wollten sein Lächeln sehen und seine Stimme hören — alle wollten langer leben. Und am Ende jeder Woche schickte der Manager dem Verlag einen Lagebericht. An den wenigen Tagen, die der junge Autor nicht im DrZug, im Wagen oder im Flugzeug verbrachte, verwandelte er Teile seines Romans in Hörspiele, in Hörwerke und Features und prüfte selbst jene Ubersetzungen, deren Ursprungsland er oft genug nicht zu nennen vermochte.

Die Beantwortung leidenschaftlicher Briefe junger Schriftsteller, die ihre Manuskripte sandten und ihn um Bestätigung ihres Talentes angingen, mußte er seinem Manager überlassen. Gemeinsam flogen sie nach Zeitplan in die Länder aller fünf Kontinente, um die fremdsprachigen Ausgaben seines Buches mit Sekt und Damen zu feiern. Sein Roman wurde dreimal verfilmt, und er wurde gebeten, die Drehbücher zu prüfen. Er hatte viel zu tun.

Sein neuer Schreibtisch war noch immer jungfräulich und wartete auf die Geburt eines neuen Satzes. Der junge Autor dachte an ihn, sagte sich aber: Den Winter kannst du noch auf dich nehmen, das bist du deinem Ruhm und jenen Menschen schuldig, die bei dir Rat und Hoffnung suchen. Im Frühjahr beginne ich mit dem zweiten, besseren Buch. .

Das Frühjahr kam und mit dem Frühjahr die Ostersaison für den Buchhandel. Der junge Schriftsteller wollte seinen Verlag nicht enttäuschen. Außerdem hatte der Manager geheimen Auftrag, ihm dazu keine Gelegenheit zu lassen. Er begleitete seinen Schützling weiterhin von Stadt zu Stadt, von Buchhandlung zu Buchhandlung, von Verein zu Verein. Immer wieder las er die gleichen Kapitel seines Romans, und er sprach bei anschließenden Diskussionen von seinem zweiten, geplanten Buch, in Nebensätzen. Für Nebensätze jedoch schien kaum jemand Gehör zu haben. Die Betten der Hotels vermochte er nur in den letzten Nachtstunden aufzusuchen; liebevoll versorgte ihn sein Manager mit Schlaftabletten. Wenn er aufwachte — und häufig genug wußte er nicht, in welcher Stadt er in den Kissen lag —, dann sagte er sich: Laß Ostern erst vorüber sein. Nach Ostern beginne ich mit dem zweiten Buch.

Auch Ostern ging vorüber, und der Manager, ein Taschenspieler, zauberte nun die handgeschriebenen, getippten und handgesetzten Einladungen jener Buchhandlungen und Vereine in kleineren Städten hervor, die sie bislang aus Zeitmangel nicht hatten beehren können. Es waren sehr viele, aber sie taten dem jungen Autor leid, der durfte und wollte niemanden benachteiligen. Also absolvierte er auch noch diese Lesungen und sprach hernach — wiederum in Nebensätzen — von seinem zweiten Buch. Aber auch in den stilleren Orten des Landes schien es mit dem Gehör nicht gut bestellt zu sein.

Auf dieser Reise wurde er unruhig und bleich, mußte größere Mengen Schlaftabletten einnehmen und sah ein wenig verhungert aus, obgleich es ihm an reichlichem und gutem Essen nirgendwo fehlte. Aber seit vielen Monaten saß er nun schon nächtelang mit fremden Menschen zusammen, trank Kaffee oder Schnaps, Tee oder Wein, diskutierte über Gott und die Brotpreise, über Pfeifenrauchen, Nationalmannschaften und Briefmarken und versuchte zwischendurch an sein zweites Buch zu denken, mit wehmütigem Gesicht.

Nachdem er dann auch die Nachzügler bewältigt hatte, brach der Sommer herein, und der junge Schriftsteller rechnete damit, sich nun endlich zur Ruhe, an seinen Schreibtisch setzen zu können. Seine Rechnung ging nicht auf; denn nun luden ihn die Strand-, Heil-, Moor-, Schlamm- und Seebäder ein, auf vornehmem Bütten, die Nieren-, Hals-, Nasen-, Ohren- und Luftkurorte. Alle versprachen sich einen hoffnungsfrohen Abend mit dem Autor des Buches „Der Tod hat Verspätung“ und eine Belebung des örtlichen Gaststättengewerbes. Hinter dem Rücken des Managers fragte er bei seinem Verlag an, ob er nicht endlich aufhören könne, aus seinem ersten Buch vorzulesen, da er doch ein zweites zu schreiben gedenke. Und der Verlag antwortete überaus freundlich: Die nächste Auflage seines Buches sei fast ausverkauft, man müsse das Eisen schmieden..., die Luft in den Seebädern werde ihm guttun, hier ein Schlammbad, dort eine, wenn auch befristete, Moorkur sei zu empfehlen, und er könne neue Eindrücke sammeln.

Sehr müde, sehr traurig und willenlos klapperte der junge Bestsellerautor die Bade- und Kurorte ab. Die Bitternis des Ruhms ließ seine Lippen schmal und seine Augen matt werden. Als sich die Heil- und Kurorte zum Winterschlaf rüsteten, war sein Gesicht gelb. Und dann begann die nächste Buchmesse.

Das Herbstgeschäft lief an, und viele Leser meldeten ihren Buchhändlern, daß sie zu Weihnachten den „Tod, der sich verspätet“ erwerben möchten. Der junge Schriftsteller mußte wieder reisen. Schicksalsergeben fuhr er in die gleichen Städte, zu den gleichen Veranstaltern und las die gleichen Abschnitte aus seinem Roman wie vor einem Jahr; niemand bemerkte es. Er brauchte nicht mehr in die Seiten zu schauen, er zitierte seit langem schon aus dem Kopf. Aber seine Stimme war leise und heiser geworden, seine Hände zitterten, mehrfach drohte er einzuschlafen, obwohl ihm der Manager vor jeder Lesung die guten Dragees „Arnold, bleib wach“, verabreichte. In seiner Aktentasche neben dem Tischchen, Podium oder Klubsessel lag ein weißes Blatt, auf dem als hoffnungsvoller Anfang ein Satz stand, der erste Satze seines zweiten Buches.

Zum zweitenmal kam er kurz vor Weihnachten in seinen Heimatort. Und dort geschah das Schreckliche. Er las wie immer: müde, heiser, monoton. Plötzlich aber bäumte er das erste Blatt seines zweiten und schlug den Manager überschrie ihn, zerschmetterte das Wasserglas, warf einen sich auf, begann zu schreien, zerriß seinen ersten Roman, Stuhl nach dem Kronleuchter. Die Polizei mußte ihm eine nieder. Es gab einen zerstörerischen Tumult im Saale. Er Zwangsjacke anlegen und ihn in eine Irrenanstalt bringen, wo er sich nach fünf Tagen wieder beruhigt haben soll.

In der Weihnachtsnummer einer vielgelesenen Zeitschrift sollte ein langer Aufsatz erscheinen, der mit ungemeiner Schärfe den „Verspäteten Tod“ verriß, kaum einen Satz gelten ließ und die Begeisterung für das Buch einen Rummel, eine typische Dummheit unserer Zeit nannte. Als man jedoch das Schicksal des jungen Schriftstellers erfuhr, vernichtete man den Aufsatz und ließ, nach dem Rat des Managers, einen neuen schreiben, der sich wohlwollend mit dem zweiten, noch unbetitelten Roman befaßte. Die Krankheit wurde nur angedeutet. Der verantwortliche Redakteur ließ es sich nicht nehmen, selbst zur Irrenanstalt zu fahren, um dem Armen den schönen Artikel zu zeigen, dem ein Bild beigegeben war, ein Bild aus glücklicheren Tagen. Der Kranke las ihn mit Ruhe. Dann gab er das Heft zurück, lächelte traurig, aber ungezwungen und sagte: „Ihr könnt mich mal...“. Der Redakteur versuchte das zu überhören, räusperte sich und klopfte ihm begütigend auf die Schulter. Dann verließ er die Anstalt. In der nächsten Nummer seiner Zeitschrift schilderte er in bewegten Worten seinen Besuch bei dem nun wirklich unheilbar Kranken. Die Abonnentenziffer stieg um einige Tausend.

Der Verkauf des Romans „Der Tod hat Verspätung“ zog noch einmal an. Dann aber blieb entgegen den Kalkulationen des Verlages eine ganze Auflage unverkauft liegen. Inzwischen war nämlich von einem anderen jungen Autor der Roman „Tod ohne Einfahrt“ erschienen, der die Menschen auf irdische Unsterblichkeit lüstern machte. Seitdem sprach man von „Der Tod hat Verspätung“ nicht mehr. Der arme Kranke aber lebt noch heute in der Irrenanstalt. Er soll sich dort noch immer wohl fühlen, an Leib wie an Seele.

Aus der In der Fischer-Bücherei erschienenen Anthologie zeitgenössischer deutscher Pros« „Das Atelier“,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung