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DER WÜTENDE BUCHHÄNDLER

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In einer der Buchhandlungen bediente ein alter Mann mit abgetragenem Rock und speckiger Samtmütze. Die gereizte Säuferstimme eines Harpagon antwortete barsch auf die Fragen der Kunden. Als ich meinen Wunsch äußerte, brummte er zweimal vor sich hin und polterte: „Wer wird heute schon De Quinceys Buch über Kants letzte Tage haben! Widerwärtige Literatur!“ Wohl könne er mir eine alte Condillac-Ausgabe anbieten... das seien die Bücher, die man lesen sollte. Philosophie aus erster Hand. Einen Rousseau? Nein? Dann habe er — falls ich künstlerische Interessen hätte — einige prachtvolle Drucke nach Hieronymos Bosch (Hieronymos van Aken!) vorrätig, die er einem vom Glück verlassenen Schauspieler abgekauft habe. Eine einzigartige Gelegenheit.

Es galt, dieser bedrohlichen Kantilene die Ohren zu verschließen. Ich ging von Regal zu Regal. Alle Bücher dünkten mich harmlos und der Bedeutung beraubt in einer Zeit der Raserei und des Entsetzens und des Hasses; der Reihe nach schaute ich mir die Titel an, die mir alle vertraut waren. Da stand Hesiod mit seinen Werken und Tagen; Marc Aurel mit seinen stoischen Pillen: „Es ist Sache großer Seelen, in der Verleumdung des Guten, was man tut, seinen Lohn zu sehen“; schließlich, in einem kleinen Band, Auszüge aus des Boethius „Trostbuch der Philosophie“. Ich hatte vor langer Zeit die Dialoge der berühmten Schrift gelesen und fühlte mich versucht, erneut zu ihren Seiten zu greifen. Der Alte nahm eilfertig das Buch zur Hand, um mir auf der Stelle einen Preis zu machen. „Ich gebe es Ihnen für ein paar Francs“ — sagte er, während er die Unterlippe mit einem Ausdruck herablassender und zugleich wohlwollender Gönnerschaft vorschab —, „denn es ist eines jener Bücher, die man getrost hinweggeben kann, in der Gewißheit, daß es in den Seelen Gutes stiften wird. Die Niederschrift dieser Gedanken hat einem Menschen dazu verholfen, sich im Gefängnis und angesichts des Todes inneren Halt zu geben.“

Dann nannte er den Preis des Buches, der recht hoch war. „Es ist eine Ausgabe aus dem vorigen Jahrhundert, sehr schwer aufzutreiben.“ Na schön; was hatte es für eine Bedeutung, ob es sich um diese oder eine andere Ausgabe handelte? Der Alte antwortete auf solch skeptisches Urteil über den bibliographischen Wert mit einem Blick voll der Verachtung und des Verdrusses. Ich bezahlte. Er zählte einige

Münzen aus der schmutzigen Schublade und ließ sie in meine Hand fallen, als suchte er sich von einem glühenden Stück Kohle zu befreien.

Rasch senkte er, nunmehr bereit, sein barsches Wesen abzulegen, die Augen, ohne Zweifel um die durch sie hervorgerufene Entsagung, nämlich die Umstellung von übler Laune auf heitere Gesprächigkeit, zu verbergen, und sagte: „Nun, junger Mann, mögen Sie aus diesem Buch Erbauung schöpfen. Und es sei Ihnen eine heilsame Lehre, wie es für mich, wenn auch verspätet, die Erfahrung dessen war, was ich mit meiner armen Frau erlebt habe.“

Meine Nase fühlte sich immer heftiger angegriffen von dem muffigen Staub und dem Geruch nach uraltem Schmutz, der von den Borden mit all den dunklen Einbänden, zerrissenen Büchern, Enzyklopädien, Schriftenstößen und Folianten ausging. Ganze Völker von Spinnen, Faltern,

Insekten schienen sich dort eingenistet zu haben — ein langjähriger Anschlag auf so viele Seiten, in denen soundso viele geistige Mumien, Leidenschaften, Gedankenblitze, logische Schlösser, Theoreme eingeschlossen ruhten.

Der gebeugte Alte klebte da an mir inmitten des Zimmers.

„Möge es eine nützliche Erfahrung für Sie sein. Meine Frau war hypochondrisch, zuckerkrank und litt fürchterlich, in einen Sessel verbannt. Ich konnte keinen Arzt bezahlen; schließlich ging ich zu einem hin und schlug ihm einen Kompromiß vor: er sollte meine Frau kostenlos behandeln, und ich würde ihm Bücher dafür geben. Na, und ob! Er willigte ein. Der Mann war so blaß, so mager, so düster, so kraftlos, daß das Dasein für ihn im nächsten Augenblick ein Ende nehmen zu sollen schien. Er besuchte meine Frau, ver schrieb ihr einige Heiltränke; nach drei Tagen hatte sich ihr Zustand merklich verschlechtert; in diesen drei Tagen schleppte mir der Arzt eine vollständige Sammlung griechischer Klassiker, ein .Befreites Jerusalem' und einen Ariosto aus dein siebzehnten Jahrhundert aus dem Hause. Jeder Besuch bei meiner Frau war ein Besuch hier im Laden. Unterdessen magerte meine Frau ab, Monsieur, und er nahm eifrig zu; meine Frau wurde verdüstert, Monsieur, und er heiter. Meine Bücher nährten ihn. Töteten dagegen meine Frau. Welch ein Wunder: der Arzt erzählte mir täglich von seiner Verwandlung nach der Lektüre des Äschylos, Spinoza, Berkeley! Bestie! Sie machten ihn von innen heraus fett. Den Dämon des Trübsinns, diese Verderbnis, stieß sein Körper nach und nach von sich und meine Frau im Krankensessel wurde sein Opfer. Aus der Hypochondrin war eine Besessene geworden! Und er kam und holte sich Bücher... Bücher... Bücher..

Er hob die Äuglein, brummte und versenkte die wütende Hand in den Taschen des abgerissenen Rocks.

„Bücher! Vampir!“ Der Alte ging mit langsamen Schritten hinter den Ladentisch und blieb dort stehen, mich unverwandt anblickend.

„Nach zwei Monaten konnte ich sie begraben. Der Arzt machte mir seinen Kondolenzbesuch und holte sich das restliche Honorar in natura. Blühend und prächtig ausstaffiert kam er daher. Er hatte seine dunklen Anzüge mit einem eleganten hellen vertauscht und trug, wie Lord Chesterfield, mit herrschaftlicher Gebärde ein Buch in der Hand. Ich mußte an Tirsos Worte denken: ,Wo immer sie vorübergeht, nennt man sie: die letzte Ölung. Wissen Sie, was ich ihm gab? Raten Sie. Die Verse des umnachteten Hölderlin! Wollte wissen, ob sie ihm den Schlaf nahmen... Aber ich habe ihn nie wieder gesehen.“

Mit der größtmöglichen Höflichkeit zollte ich der Geschichte die gehörige Anerkennung und zeigte mich über das Verhalten des Arztes redlich entsetzt. Nach einem letzten Blick auf die Bücher, die auf einem Tisch ausgelegt waren, sagte ich dem alten Buchhändler, der wieder in sein griesgrämiges Schweigen verfallen war, auf Wiedersehen und verließ mit dem kleinen Boethius-Exemplar unter dem Arm den Laden.

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