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Des Autors neues Buch

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Das Ganze schien ihm derart unglaubhaft, daß er sich noch einmal in aller Ruhe vergewissem wollte. Er war ein vernünftiger Mensch, der sich gerne an Tatsachen hielt. Phantastereien waren ihm verdächtig. Nachdenklich putzte er seine Brille, setzte sie dann wieder auf und schloß, wie um Zeit zu gewinnen, nochmals die Augen. Nun würde der Spuk ein Ende haben. Doch als er das Buch ein zweites Mal öffnete, um endlich mit der ersehnten Lektüre zu beginnen, fand er sich aufs neue irritiert. Wie schon kurz zuvor traten einzelne Silben und Buchstaben aus den geraden, schwarzen Reihen und benahmen sich äußerst befremdlich. Sie warfen sich übereinander, bildeten Knäuel, verkeilten sich, um sich gleich darauf zu trennen und zu neuen Wortbildern zu paaren. Und nicht nur die erste Seite, das ganze Buch schien in wilder, ruheloser Bewegung. Wo er es auch aufschlug, überall tanzten Buchstaben und Silben vor seinen Augen, kein Wort blieb beim andern. Es war zum Verrücktwerden!

Gerade als er das Buch wütend in die Ecke schleudern wollte bildete sich ein Wort, das ihn traf: „Geist". Ärger und Enttäuschung machten sogleich einer Faszination Platz, die ihn nur in den frühesten Zeiten seines Schriftstellerlebens erfüllt hatte. Damals war er nicht müde geworden, nächtelang über Ursprung und Sinn eines einzigen Wortes nachzudenken. Wenn sich ihm dann Welt um Welt eröffnete, empfand er ein nie gekanntes Glück. Aber längst war er ein Vielschreiber geworden, ein Bestseller-Autor, berühmt und sehr gefragt. Längst blieb ihm keine Zeit mehr, sich um ein einzelnes Wort zu kümmern, galt es doch, immer mehr zu schreiben, immer neue, noch ergiebigere Stories zu erfinden. Brillant, zeitnah und spannend sollten sie sein, so wollte es seine große Leserschaft.

Vor einigen Tagen war sein neuestes Buch auf den Markt gekommen, ein umfangreicher Roman, von der Fachkritik bereits mit Vorschußlorbeeren bedacht. Nun war er begierig, in seinem neuen Werk zu blättern, denn er liebte es, seine brillanten Gedanken und Formulierungen endgültig geordnet und gedruckt zu sehen. An der Brille konnte es nicht liegen, daß jetzt die Buchstaben noch frecher und provokanter aus der Reihe tanzten. Seine Augen seien in Ordnung, hatte ihm kürzlich ein namhafter Spezialist versichert, für seine sechzig Jahre sei er in bester Form. Und mit dem Kreislauf könne er zufrieden sein. Woher dann dieses Chaos? Er trat an das offene Fenster und tat einige tiefe Atemzüge. Es wird eine kleine Übermüdung sein, nichts Ernstes, redete er sich ein. Als er sich wieder setzte, war er ganz gelassen. Doch wie erschrak er, als er die ersten Seiten seines Buches nun völlig leer fand. Irritiert und verstimmt zog er sich in sein Bett zurück und schlief bald darauf ein. Er träumte von lebensgroßen Buchstaben und Silben, dekorativen Monstern, die sich zu immer neuen Wortbildern paarten und ob ihrer dreisten Selbständigkeit noch zu kichern schienen. Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sein Buch leer, von der ersten bis zur letzten Seite. Ihm wurde übel. Dem ersten heftigen Impuls, seinen Verleger anzurufen, gab er nicht nach. Später, nach dem Frühstück, fühlte er sich besser, aber das Buch blieb leer. Unfaßbar! Ausgerechnet ihm, dem Realisten mußte dies geschehen!

Gegen elf Uhr traf er pünktlich zur Signierstunde ein, eine soignierte, elegante Erscheinung von überlegener Gelassenheit, ganz der erfolggewohnte Autor. Die Leute standen bereits Schlange, als der Lautsprecherankündigte, der berühmte Schriftsteller T. werde nun sein neues Buch signieren. Ein flüchtiger Blick in das erste aufgeschlagene Exemplar trieb ihm den Schweiß auf die Stirne. Er blickte, auf eine leere Seite tippend, nervös zum Buchhändler auf. Aber dieser lächelte zufrieden und schien keineswegs beunruhigt. Ganz im Gegenteil, sein Geschäft würde heute auf vollen Touren laufen, bei diesem Andrang. Als T. die ersten leeren Bücher signiert hatte, zitterte er noch leicht. Aber das gab sich, als ihm klar wurde, daß niemand etwas zu merken schien. Es wurde gekauft wie noch nie. Die Leute waren sichtlich aufgeschlossen, stellten gezielte Fragen, formulierten Widmungswünsche und dankten anschließend mit gebührendem Respekt. Einige ganz Beflissene begannen sogleich zu lesen, während die Fernsehkameras surrten. Am Ende zählte der Abteilungschef 227 verkaufte Exemplare. Ein glanzvolles Ergebnis, das noch gefeiert werden mußte. Der Verleger hielt eine Rede, in der er seiner Meinung Ausdruck gab, dieses Buch sei in jeder Hinsicht das Beste, das der erfolgreiche Autor bisher geschrieben habe. Es werde die Bestsellerlisten stürmen, ein Großerfolg sei ihm gewiß.

Den seltsamen Ausdruck im Gesicht des Schriftstellers T. nahm niemand wahr. Er hatte ausgesorgt und würde fortan nur noch profitieren. Schließlich war es nicht seine Schuld, daß die Menschen nichts merkten. Sollten sie doch in dem Buch lesen, was sie wollen. Er wußte seit heute, daß nichts darin stand.

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