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Das 19. Jahrhundert prägt die Sozialreform

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Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde 1818 in Hamm an der Sieg als siebentes Kind des Dorfbürgermeisters geboren, Karl Heinrich Marx erblickte in der alten Römerstadt Trier im selben Jahr das Licht der Welt. Raiffeisen genoß ebenso wie Marx eine Erziehung im evangelischen Glauben, wobei nur ersterer von einer tiefen Frömmigkeit für sein weiteres Leben beseelt wurde. Raiffeisens Ausbildungsmöglichkeiten waren nicht so günstig wie die seines berühmteren Zeitgenossen; nach Absolvierung der Volksschule bildete er sich beim Dorfpfarrer weiter und rückte mit 17 Jahren zum Militär ein, mußte aber infolge seiner angegriffenen Gesundheit die Karriere im Waffenrock bald aufgeben. Er widmete sich als Kommunalbeamter den Aufgaben einiger kleiner Westerwald-Gemeinden, denen er später auch als Bürgermeister dienen sollte.

Marx hingegen studierte sechs Jahre in Bonn und Berlin vornehmlich Staatswissenschaften, Philosophie und Geschichte. Seine radikale Einstellung kostete ihn die Stellung als Redakteur der liberalen „Rheinischen Zeitung“ in Köln. Die folgende Übersiedlung nach Paris bedeutete eine entscheidende Wende in seinem Leben. In der Stadt an der Seine machte Marx mit Lorenz von Steins Buch „Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich“ — mit der Idee, die sein weiteres Leben bestimmen sollte — Bekanntschaft.

Doch ein wesentlicher Unterschied zeigte sich bald im Charakter der beiden Männer, die heute mit dem Schlagwort „Sozialreformer" abgestempelt werden. 1847 war das Jahr, in dem Friedrich Raiffeisen als Bürgermeister der kleinen Gemeinde Weyerbusch die Not seiner Mitbürger durch eine genial-einfache Institution zu lindern suchte. Auf Grund der Mißernte des vergangenen Jahres herrschte in den entlegenen Höhenzügen des Westerwaldes ein bitterer Mangel an Grundnahrungsmitteln — Zichorienbrühe und Sauerkraut bildeten das „Menü“ breiter Bevölkerungsschichten —, eine Hungersnot, zu vergleichen mit der von Gerhart Hauptmann in den „Webern“ geschilderten oberschlesischen. Raiffeisen bildete mit einigen wirtschaftlich gutgestellten Bürgern den „Weyerbuscher Brodverein“, den ersten Konsumverein seiner Zeit. Dieser Versuch erfüllte alle Erwartungen: Mittels einer Tag und Nacht betriebenen Bäckerei war es bald möglich, das Brot um den halben Preis abzugeben. Einem nationalökonomischen Prinzip gehorchend, fiel auch in der näheren Umgebung der Brotpreis beträchtlich — die Rationalisierung eines Produzentenbetriebes wirkte sich für eine erkleckliche Anzahl von Konsumenten segensreich aus.

Revolution kontra Evolution

Im selben Jahr wurde Marx wieder einmal des Landes verwiesen. Der ewige Emigrant trat bald darauf in Brüssel mit einer Streitschrift gegen den „Bourgeois-Sozialismus“ Pierre Proudhonswieder in Erscheinung. Marxens Beschäftigung mit der Not der ausgebeuteten Arbeiterschaft ging nicht über den wissenschaftlich-theoretischen Rahmen hinaus. Er arbeitete nicht für einen kleinen Kreis von Menschen, deren Elend ihm auf Grund des Miterlebens, des Mitfühlens unerträglich dünkte, er plante vom Schreibtisch aus mehr als eine Sozialreform: Für ihn bestand das Heil der Gesellschaft in der Entfesselung der permanenten Revolution (so der Schlachtruf in einem Rundschreiben an den Bund der Kommunisten im Jahre 1850), in der „Expropriation der Expropriateure“ und schließlich in der „Diktatur des Proletariates“. Ein Meer von Blut — Begleiterscheinung jeder großen Revolution — war für ihn ein vom Zweck geheiligtes Mittel, ein Zweck, dem zwar ein utopischer Glorienschein anhaftet, der aber, wie wir heute mit Recht sagen können, weder in der Marxschen Fassung noch in den diversen Fort- und Rückentwicklungen des marxistischen Gedankengutes zu einem echten „bonum commune“ realisierbar ist.

Raiffeisen, dessen kleines Experiment mittlerweile große Früchte getragen hatte (1849 wurde der „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirthe“ ins Leben gerufen, fünf Jahre später gründete der „Pionier der friedlichen Selbsthilfe“ als Bürgermeister von Heddesdorf einen Wohltätigkeits-

verein, aus dem 1864 der „Heddes- dorfer Darlehenskassen-Verein“ hervorging, womit der eigentliche Vorläufer der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaft geboren war), suchte stets auf dem Bestehenden aufzubauen, Vorhandenes zu verbessern, Neues auf evolutionärem Wege zu schaffen und revolutionäre Schrecken zu vermeiden. Er beschritt den Pfad der Mitte, war in seinen Auffassungen nicht einmal so radikal wie der andere geistige Schöpfer der Genossenschaftsidee, Hermann Schulze-Delitzsch, der glaubte, mit der Selbsthilfe allein das große Ziel erreichen zu können, während Raiffeisen richtig erkannte, daß ohne Hilfe des Staates die praktische Verwirklichung des genossenschaftlichen Gedankens zum Scheitern verurteilt sein muß.

Raiffeisens Lebenswerk läßt erkennen, daß die „Urgenossenschaft“ und ihre Fortentwicklung eine der fruchtbarsten friedlichen Institutionen der abgelaufenen hundert Jahre repräsentiert. Beim ersten Welt- Raiffeisentag am 19. Juni in Frankfurt am Main gedachten zwar „nur“ 80 Millionen Mitglieder von Genossenschaften aus 45 Staaten der Erde ihres Vorkämpfers — des „Sämannes der Gewalt“ erinnerte sich weit über eine Milliarde von Menschen —, sie konnte es dafür ohne jeglichen bitteren Beigeschmack, in dem Bewußtsein, einer Organisation anzugehören, die auf dem Prinzip der freiwilligen Mitgliedschaft basiert, dem einzelnen ebenso von Nutzen ist wie ihre prosperierende Wirkung auf die Wirtschaft der betreffenden Staaten.

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