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Wilhelm Marx

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Der Tod hat einen der vornehmsten Staatsmänner der Weimarer Republik, einen der lautersten Charaktere des politischen Katholizismus Deutschlands aus dem, durch die nationalsozialistische Revolution und den Krieg wahrhaft zu einem Tal der Tränen gewordenen Leben abberufen. Wilhelm Marx ist am 5. August, 83 Jahre alt, in einer Stadt am Rhein verstorben.

Schon als sich die Schatten der nationalsozialistischen Diktatur auf Deutschland legten, hatte Marx die Schwelle des Greisenalters überschritten und zählte nicht mehr zu den aktivistischen Kräften des Zentrums. Aber seine reiche politische Erfahrung und sein vorbildliches Leben boten dem Zentrum der Republik auch damals noch eine Quelle der Kraft.

Die Fraktion des Reichstages hatte bedeutendere und imponierendere Ersdieinun-gen. Kaas und Stegerwald, Mausbach und Fehrenbach unter den Älteren, Schreiber und Brüning wie Josef Wirth unter den Jüngeren haben ihn in mancher Hinsidit übertroffen. Der eine an Gelehrsamkeit, de andere an politischer Begabung, der an Kraft der Persönlichkeit, jener an Geist und Beredsamkeit. Keiner aber hätte sich vermessen können, sich ihm an christlicher Tugend und echter katholischer Frömmigkeit auch nur zu vergleichen, selbst dann nidit, wenn er geistlichen Standes war. So war Wilhelm Marx im Nachkriegszentrum, so wesensverschieden er sonst gewesen sein mag, ein Nachfahre des alten Peter Spahn, an dessen Bahre Anhänger und Gegner in gleicher Ergriffenheit und Trauer eine stille Träne vergossen, in dem tiefen Empfinden, daß das ganze Volk einen edlen Sohn verloren hat.

Auch sein Lebensweg erinnert an den des Zentrumsführers der Vorkriegszeit Peter Spahn. Gleich ihm war er dem Richterstand entwachsen und aus bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen emporgestiegen. Daher auch sein Zug zu echtem, sozialem Wirken, seine Freudschaft mit Carl Sonnenschein, dem unübertroffenen Großstadtseelsorger Berlins, sein Verständnis für die Nöte und Bedürfnisse des Kleinbürgers, sein innerer Trieb zur Sozialreform und seine Neigung, überall zu wirken, wo es galt, das Los des Arbeiters zu verbessern, sein Leben zu verschönern und ihn für die Liebe zum Vaterland zurückzugewinnen.

Oftmals wurde Marx dem „Linkszentrucn“ zugezählt. Mit den Leuten, die dieses aber wirklich bildeten, wie Adam Röder und Leo Weißmantel, hatte er in Wahrheit nichts gemein. Das hielt ihn aber nicht ab, die Politik des Zentrums dahin zu beeinflussen, daß es im gemeinsamen Wirken mit der Sozialdemokratie die Heilung der Wunden suchen sollte, die der erste Weltkrieg dem deutschen Volk geschlagen hatte. Das war sein Patriotismus, das war sein Nationalismus. Freilich, von allem Reaktionären, von allem Chauvinismus war die Seelenhaltung dieses Mannes frei So ist es zu erklären, daß dieser katholische Mann auch von der damaligen gemäßigten Linken gerne im politischen Leben der Weimarer Republik gesehen worden ist und zu hohen und höchsten Reichsämtern berufen wurde, nicht nur auf den Stuhl des Reichskanzlers, sondern auch zum Kandidaten der Volksfront für die Wahl zum Staatsoberhaupt, zum Reidis-präsidenten, aufgestellt worden war. Seine Gegenkandidaten im ersten Wahlgang blieben erheblich hinter ihm zurück. Der Kommunist Thal mann fungierte nur als Zählkandidat und war von vorneherein ohne Aussichten. Der Kandidat der Rechten, ein im politisdien Leben kaum bekannter Oberbürgermeister, Jarres, wurde durch den fürwitzigen Ausruf eines streitbaren Pastors: „Das ist der Kandidat des evangelischen Bundes“, der Wählerschaft schlecht empfohlen; so hätte die Stichwahl mit Sicherheit den Sieg Wilhelm Marx' erwarten lassen. Da wechselten die Deutschnationalen plötzlich ihren Kandidaten und präsentierten der Wählerschaft den greisen Generalfeldmar-schall von Hindenburg, den Sieger von Ortenburg und Tannenberg, den Retter Ostpreußens. Und er ging auch tatsächlich mit einer entsprechenden Mehrheit aus dem Wahlkampf hervor. Ein gewisses Gefühl der Dankbarkeit hatte ihm auch zahlreiche Stimmen der Katholiken zufallen lassen. Bald allerdings erwies sich der greise Marschall den ihn gestellten Aufgaben mangels politischer Erfahrung nicht gewachsen und er erlag den Einflüssen politischer Kräfte, die ihn, wenn auch widerstrebend, doch veran-laßten, Hitler zum Reichskanzler und seine Partei zur Staatsmacht zuzulassen, den falschen Propheten der Gewalt, der Rassen-überneblichkeit und der Totalität den Weg zu hemmnungsloser Herrschaft freigebend.

Wie anders hätte sich das deutsche Schicksal gestalten können, hätte das deutsche Volk in seiner Mehrheit genügend demokratische Erfahrung, hinreichenden politischen Weitblick besessen und Wilhelm Marx auch im zweiten Wahlgang seine Stimme gegeben! Er hätte die junge Republik, die unerfahrene deutsche Demokratie nicht den sttfrrmscfien Entwicklungen entgegengeführt, wie das der Sdiöpfer der nationalsozialistischen Bewegung eine Zeitlang zu tun verstand, er hätte sie bewahrt vor all den Verwirrungen in der Innen- wie in der Außenpolitik, durch die das Reich in das Unglück gestürzt wurde.

Von der Bitternis dieser Erfahrung belehrt, weiß das deutsche Volk heute, wi es an Wilhelm Marx, dem seinerzeit gern belächelten Kompromißpolitiker, in Wahrheit verloren hat. Der Katholik aber — auch jenseits der Reichsgrenzen —, der jemals den verstorbenen Reichskanzler kennenlernte oder sein Wirken zu beobachten Gelegenheit fand, schöpft aus seinem Leben neue Zuversicht zu den Grundsätzen seiner Weltanschauung.

Den Toten grüßen wir mit dem christlichen Liebesgruß „Hac pia anima“; der Abschied wird uns leicht, denn wir wissen, „iana lucet lux perpetua ei“. tz.

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