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Eigentumsgarantie fiir Obdachlose ?

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Wo immer über die Neufassung eines Katalogs der Grundrechte des Bürgers diskutiert wird, erhebt sich bald die Forderung nach Festschreibung sozialer Ansprüche.

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Wo immer über die Neufassung eines Katalogs der Grundrechte des Bürgers diskutiert wird, erhebt sich bald die Forderung nach Festschreibung sozialer Ansprüche.

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Der klassische Grundrechts-schutz ist in den letzten Jahrzehnten durch die Idee der sozialen Grundrechte ergänzt worden.

Dahinter steht die Tatsache, daß - wie es Wolfgang Mertens auf der Staatsrechtslehrertagung 1972 formuliert hat - „die Nutzung zahlreicher Grundrechte bestimmte faktische Gegebenheiten voraussetzt mit der Folge, daß eine Ausübung der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte nur demjenigen möglich ist, der die ,capacite\ verstanden als Vermögen in einem umfassenden Sinn, besitzt, sich diese Voraussetzungen anzueignen.”

Kurz gefaßt: Für einen Obdachlosen ist die Eigentumsgarantie ohne Wert.

Von diesem Gedanken ausgehend, hat sich der soziale Leistungsstaat bemüht, immer mehr Menschen zu aktionsfähigen Grundrechtsträgern aufzuwerten, das heißt, ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen und damit die Grundlage ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu legen.

Der Anteil der Grundrechte an dieser — um ein Wort Hans Za-chers zu verwenden — „soziale(n) Erfüllung der Freiheit” ist freilich geringer als bei der Sicherung des status negativus. Ergibt sich dieser als direktes Produkt einer quasi mechanischen Anwendung der einzelnen Grundrechtsartikel, so sind diese an der Sicherung einer sozialen Mindestausstattung nur in mittelbarer Form beteiligt. Dies unabhängig davon, in welcher Form man die sozialen Ansprüche an den Staat konstruiert.

So etwa aus der Umdeutung liberaler Grundrechte in Teilhabeansprüche, wobei stets mitzudenken ist, daß der vom Staat herkommende vermehrte Wohlstand vermehrten Freiheitsverbrauch bedeutet. Ansatzpunkt in dieser Richtung ist vor allem der Gleichheitsgrundsatz und das mit ihm verbundene Stichwort der Chancengleichheit.

Der Ausschluß bestimmter Gruppen von staatlichen Zuteilungsmaßnahmen kann unter diesem Aspekt durchaus zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Diskriminierung führen. Doch ist dabei der einfache Gesetzgeber stets frei, zwischen einer Abschaffung oder Ausdehnung der Privilegierung zu wählen.

Noch bemühter wirken Versuche, direkte soziale Leistungsansprüche aus dem Sozialstaatsprinzip abzuleiten.

Daß Österreich durch seine umfassende soziale Gesetzgebung ein Sozialstaat ist, ist ein Faktum, das aber nicht zugleich als normative Grundlage für individuelle Ansprüche in dieser Richtung verwendet werden kann. Bleibt sohin nur mehr die Statuierung sozialer Grundrechte selbst, als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte auf staatliche Leistungen.

Die überwiegende Meinung steht solchen individuell einklagbaren Ansprüchen skeptisch gegenüber. Auf den Punkt gebracht, würde, dies eine Übertragung der Leitungskompetenz auf wirt-schafts- und sozialpolitischem Gebiet von Parlament und Regierung auf den Verfassungsgerichtshof bedeuten.

Die Grenzen der Rechtsprechung wären aber alsbald erreicht, wenn es darum ginge, zwischen Arbeitskräfte„freisetzung” oder höheren Unternehmensdefiziten zu entscheiden.

Welche Varianten man auch immer bevorzugt, fest steht, daß der soziale Grundrechtsschutz sich nicht im Dialog zwischen Grundrechtsgeber und Grundrechtsträger verwirklicht, sondern immer der Vermittlung des einfachen Gesetzgebers bedarf.

Soziale Grundrechtsansprüche sind daher — um nochmals Wolfgang Mertens zu zitieren — „leges imperfectae”. Ihre Vollzugsfähig* keit ergibt sich aus ihrer konkreten einfachgesetzlichen Ausgestaltung.

Deshalb erscheint es auch „ehrlicher”, solche Ansprüche von vorneherein in Staatszielbestimmungen, Verfassungsaufträge, Programmsätze und dergleichen zu kleiden, als sie in einem mehr oder minder vollständigen Katalog als soziale Grundrechte auf zulisten, der zunächst Begehrlichkeit, letztendlich aber nur Enttäuschung provoziert.

Aber auch der Wert solcher verfassungsgesetzlichen Verheißungen wird durch ernstzunehmende Zukunftsprognosen fast völlig relativiert.

Das Niveau der heutigen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft setzt etwa zwei Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter außerstande, die Minimalqualifikationen für die Arbeitswelt durch Bildung zu erwerben. In der computer-dominierten Informationsgesellschaft werden es nach Berechnung des deutschen Mathematikers und Informatikers Klaus Haefner bis zu 20 Prozent sein.

Ein „Recht auf Arbeit” etwa läßt sich in einer solchen Wirklichkeit bloß noch als papierene Phrase aufrechterhalten.

2/3-Gesellschaft

Der Computer ist es auch, der — nach Haefner - eine neue Klassenbildung in der Informationsgesellschaft inszeniert: glimpflich kommt die kleine Gruppe der „Autonomen” weg, deren berufliches Tätigkeitsfeld von Informationstechnik freigehalten werden kann. Der Landwirt kommt als Beispiel dafür in Betracht.

Die „Substituierbaren” hingegen werden vom Computer verdrängt und „freigesetzt”, während die „Unberechenbaren”, deren Arbeit zu komplex ist, um sich automatisieren zu lassen, als Benutzer und Nutznießer der in den technischen Systemen bereitgestellten Informationen die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit immer weiter auszudehnen gezwungen sind.

Gehen wir also auf eine Zwei-Drittel-Gesellschaft zu, die nur jene einläßt, die einen bestimmten Mindestintelligenzquotienten nachweisen können?

Allein die Fragestellung verdeutlicht den Sprengsatz des sozialen Bürgerschutzes. Ihn zu entschärfen, wird es mehr bedürfen als systemkonformer Korrekturen im Wirtschafts- und Sozialbereich, jedenfalls mehr auch als schön klingender Bekenntnisse des Verfassungsgebers.

Der Autor ist Professor für Allgemeine Staatslehre und österreichisches Verfassungsrecht an der Universität Innsbruck. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats zum Thema „Dimensionen des Bürgerschutzes an der Schwelle zum dritten Jahrtausend” bei der Tagung „Bürgerschutz 2000” in Innsbruck (FURCHE 18/1985).

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