6944863-1983_41_03.jpg
Digital In Arbeit

Freiräume schaffen

19451960198020002020

Die Art, wie Politik gemacht und erlebt wird, ist den neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Das bestätigt auch eine Studie der Lazarsfeld-Geselischaft.

19451960198020002020

Die Art, wie Politik gemacht und erlebt wird, ist den neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Das bestätigt auch eine Studie der Lazarsfeld-Geselischaft.

Werbung
Werbung
Werbung

Es entspricht Traditionen unserer politischen Kultur, die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse vom „Staat“ zu erwarten. Diese etatistische und zentralistische Einstellung ist historisch-politisch erklärbar.

Staatliche Zentralisierung und rechtliche Uniformierung waren das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse im Übergang vom Feudalsystem zur Industriegesellschaft. Die staatliche Zentralgewalt hat „modernisiert“ und die Agrar- und Feudalgesellschaft zur modernen Wirtschaftsgesellschaft geführt.

Der technisch-ökonomische Fortschritt produzierte auch soziale Probleme. Sie wurden durch politische Entscheidungen in die

Richtung der sozialen Sicherheit gelöst, wobei mit der Demokratisierung des Staates die Entwicklung zum Sozialstaat verbunden war.

Nach der Demokratisierung des Staates waren erst recht die Erwartungen aller’ Schichten auf den Staat gelenkt. Er wurde im Bewußtsein vieler zum Träger sozialer Gerechtigkeit und zum Garanten der Sicherheit im weitesten Sinn.

Die etatistischen Erwartungsstrukturen haben zu immer mehr und anderen Ansprüchen von immer mehr Schichten gegenüber dem Staat geführt. Der Staat wurde zum Mittel, um über die eigenen Verhältnisse leben zu können. „Ökonomismus“ gehörte zum Grundkonsens der Politik, die auf den Staat als größten Nehmer und Geber, Verteiler und Umverteiler zentriert wurde.

Mit dem Wirtschaftswachstum ist der Staat im weiteren Sinn gewachsen. Die Durchrechtlichung und Durchstaatlichung der Gesellschaft ist so groß, daß sie nicht mehr auffällt. Die Gesellschaft ist in gewissem Sinne Staat geworden.

Der Staat wurde vor allem Wirtschafts- und Sozialverwaltungsstaat, der durch die stärksten gesellschaftlichen Interessen geleitet wird. Auch Österreich wurde auf Wirtschaftswachstum, Wohlstand, auf wohlerworbene, ökonomische Besitzstände und Materialismus festgelegt.

In der „Ökonomokratie“ (Röpke) wurde alles andere zum Sekundären, insbesondere der gro-

Be Bereich einer demokratischen Kultur, einer Kultur für alle, durch alle und von allen.

Man kann es möglicherweise dem Unwissen darüber, was für den Menschen gut ist, zuschreiben, daß die Politik in den Materialismus der Anspruchsgesellschaft führte. Der politisch und privat vor allem durch die Ökonomie gesteuerte Mensch geriet nicht nur in die Fesseln des Wohlfahrtsstaates, sondern auch in eine geistig-religiöse Krise. Das Immer-besser-lebęn-Wollen versperrt vielen den Weg zum guten Leben.

Bei der Wirtschaft und beim Staat zeichnen sich seit einiger Zeit Probleme und Grenzen ab. Es sind vor allem die Fragen, ob sie das Richtige tun und ob der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem steht, was dabei herauskommt, also Effektivi- täts- und Effizienzprobleme.

Die Grenzen der Finanzierbarkeit und Organisierbarkeit der wachsenden Staatsaufgaben sind augenfällig. Die Probleme der koordinierenden Steuerung sind beim Staat mit der Vermehrung der Staatsaufgaben so gestiegen, daß manche sie für unlösbar halten und eine Art Staatsanarchie feststellen. Dazu kommt die Einengung des Handlungsspielraumes des Staates infolge der Budgetentwicklung.

Die Verfestigung von Verwaltungsbereichen. und dazugehörigen Interessengruppen zu Koalitionen, die sich wie Stammesgesellschaften abschließen, lassen überdies Staaten im Staat entstehen.

Mehr Wohlstand, höhere Bildung und die Individualisierung der Bedürfnisse führten andererseits zu qualitativen Veränderungen auf der gesellschaftlichen Seite.

Die neuen Erwartungen wirken in die Richtung einer neuen Politik. In ihr könnten der Staat und andere Großorganisationen an

Bedeutung verlieren, deren Eigenbereich und der vom einzelnen überschaubare gesellschaftliche Bereich aber an Bedeutung gewinnen.

Viele erwarten für die Zukunft neben dem Marktsektor und dem Staatssektor, die beide mehr und mehr in sich differenziert sein werden, ein breites Band dezentraler, autonomer Tätigkeitsmuster, die als identitätsfördernd und sinnvoll empfunden werden. An solchen Tätigkeiten müßte die Politik schon aus Kostengründen größtes Interesse haben, ganz abgesehen davon, daß darin Chancen für eine gesellschaftliche Demokratie und für eine politische Kultur der Kooperation, Partnerschaft und Solidarität liegen.

Der Staat dürfte grundsätzlich nicht neue Zuständigkeiten für sich schaffen und seine Allgegenwart erweitern. Er müßte im Gegenteil auf die Rechte aufmerksam machen, die autönome Initiativen ermöglichen, und sie fördern. Dazu gehört freilich, daß die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte gegenüber dem Staat aktuell bleiben, sondern als Gestaltungsrechte in bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse und als freie Betätigungsfelder bewußt werden.

Grund- und Freiheitsrechte bedeuten auch Freiräume, Organisationsfreiheit, Chancen der Selbstorganisation und Kooperation. Sie und das Privatrecht konstituieren jenen Bereich der Gesellschaft, in dem man autonom seine Interessen und Beziehungen wahrnehmen kann.

Die allgemeine Freiheit, sich betätigen zu können, und die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, ob und welche Rechte und Pflichten gegenüber anderen begründet werden sollen, sind nicht nur die Grundlage dezentraler Rechtserzeugung, sondern auch dezentraler „Selbstverwaltung“, Selbsthilfe und Selbstversorgung.

Vermehrte Freizeit und veränderte Arbeitszeit bedeuten für die verschiedenen Formen autonomer dezentralisierter Organisation und Kooperation mehr Möglichkeiten. So können viele Bedürfnisse gesellschaftlich und ohne Staat befriedigt werden.

Die Menschen könnten beginnen, nicht bei jedem Problem gleich nach dem Staat zu rufen, sondern ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

Der Autor ist Professor für Rechtslehre an der Universität für Bodenkul- - tur in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung