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Gefahrdete Demokratie

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Die Entwicklung der Freiheit ist im geistigen wie im sozial-politischen Bereich bedenklich genug, und es bedarf wahrhaftig der verantwortlichen Besinnung und “der unvoreingenommenen Erkenntnis der Tatsachen, um die gewaltige und gewaltsame Tendenz zur Mißachtung des Menschen und zur Vernichtung der persönlichen Freiheit im Aufbau der sozialen Ordnung zu überwinden. Jede soziale Ordnung hat ihre Gefahrenzonen, ihre typischen Entartungsmöglichkeiten, die in sonderbarer Weise immer gerade das Gegenteil dessen hervorbringen, was das eigentliche Anliegen der Ordnung war. So führt die verfälschende Uberspannung des Autoritätsgedankens zu jener tiefen Desintegration des sozialen Lebens, die sofort klar wird, wenn der Druck des Terrors weicht, und die verfälschende Überspannung des Freiheitsgedankens zur Vernichtung der Freiheit. Es wäre höchst verhängnisvoll, würden wir diese Gefahren gerade in der sogenannten Demokratie, vor allem in der kontinentaleuropäischen, unbeachtet lassen und einem Demokratiemythos verfallen. Denn gerade das würde uns wehrlos machen gegenüber allen Machtfaktoren und Ideologien, die uns der sozialen und politischen Freiheit zu berauben suchen. Andererseits erscheint es von höchster Bedeutung, jene Elemente aufzuweisen, die zu Ausgangspunkten einer wirksamen Offensive des Freiheitsgedankens in unserer gegenwärtigen Lage werden könnten.

Wir werden dabei zwei Dinge ständig im Auge behalten müssen: erstens, daß die soziale Freiheit in unlöslichem Zusammenhang mit dem sittlichen Tatbestand der Freiheit der Persönlichkeit steht und daher ihre Erhaltung und Sicherung nicht allein Sache der politischen Gestaltung sein kann. Aber Absterben, Erhalten und Wiedergewinnen der Freiheiten im sozialen Leben sind auch Sache der sozial-politischen Lebensformung. Sie haben einen bedeutsamen soziologischen Aspekt, und zwar zuerst negativ: weil durch die Ordnungsideen und durch die Prinzipien der sozialen Gruppenbildung der Raum der möglichen Freiheitsausübung unerbittlich eingeengt und zerstört werden kann. In unserer Zeit findet auf solche Weise eine systematische Verengung des Freiheitsraumes in der sozialen Ordnung statt. Der Begriff der Freiheit verliert dadurch jeden sinnvollen Inhalt, jeden konkreten, lebendigen, greifbaren Gehalt und führt zum Verzicht auf die Freiheit, wenigstens auf alle wesentliche Freiheit, und zur alleinigen Betonung und Erstrebung der niederen Freiheiten. Es ist bezeichnend, daß aller Kollektivismus zunächst mit den Freiheiten der Triebe, der Rache, des Hasses, des vernichtenden Gegensatzes Propaganda macht. Das heißt aber nichts anderes, als daß er Freiheit und Verantwortung trennt. Die ideologische Trennung von Freiheit und Verantwortung in den (individualistisch - liberalistischen) Sozialideologien ist der tiefste Quellgrund der kollektivistischen Verirrungen. Sodann positiv: weil wir nur von dort aus die Offensive der Freiheit erfolgreich ergreifen können, wo die Resträume der Freiheitsausübung liegen, und nur auf die Weise, daß wir sie mit Ordnungstaten der Freiheit erfüllen. Zweitens, daß wir nur dann mit Aussicht auf Erfolg für eine freie Gesellschaft“ eintreten können, wenn wir die konstitutiven Elemente der Unfreiheit in unserer Lebensordnung abbauen, um ihr den Charakter der Freiheit zu geben. Denn aus den Strukturelementen der Unfreiheit erwachsen jene sozialen Ideologien, die mit ihren Ideen allgemeiner Staatsversorgung und allgemeiner Unfreiheit Zeugnis für mangelnde Selbstbestimmung und persönliche Lebensformung in gewissen sozialen Situationen ablegen.

Wenn wir unser politisches, soziales und wirtschaftliches Leben unter diesen Gesichtspunkten prüfen, so kommen wir zu einem Ergebnis, das uns die verhängnisvolle Tendenz zum totalitären Kollektivismus, die unleugbar ist, weitgehend erklärt, aber auch die Wege möglicher Freiheitsgewinnung zeigt. Sowohl die Grundsätze, denen die heutige soziale Gruppenbildung ihren Antrieb verdankt, als auch die Grundsätze dessen, was man — euphemistisch — politische Erziehung“ nennen könnte, drängen trotz aller sicherlich ehrlich gemeinten Gegnerschaft gegen den Totali-tarismus aus innerer Notwendigkeit zu kollektivistischen, zu totalitären Formen. Wie nämlich Freiheit ohne Verantwortung eine inhaltslose und deshalb im tiefsten unrealisierbare Freiheit ist, kann soziale Freiheit nur an einer konkreten Verantwortung, das heißt an einer konkreten sozialen Aufgabe wirksam werden. Soziale Freiheit ist nicht irgendein formalrechtlicher Tatbestand, sondern liegt darin, daß man eine soziale Aufgabe verrichtet zu eigenem Rechte und als Erfüllung des eigenen persönlichen Lebens, daß man in einer Ordnung steht, an der man aktiv aus den persönlichen Kräften teilhat, so daß man sie als die Ordnung seines Lebens erkennt. Im konkreten Alltagsleben, in der Gestaltung oder Mißgestaltung der täglichen Arbeit entscheidet sich das Maß der Freiheit. Es ist der Alltag, an dem man — in Theorie und Erfahrung — prüfen sollte, ob eine Gesellschaft frei ist, ob sie m sich selbst die Kraft zu leben hat oder nur als Mißgeburt staatlicher Allorganisation durch das Leben geschleppt wird.

Aus einer solchen Auffassung sozialer Freiheit aber ergibt sich, daß sich eine Gesellschaft nur dann in Freiheit wird entfalten können, wenn ihr struktureller Aufbau, ihre soziale Gruppenbildung primär aus der gestaltenden Kraft der sozialen Aufgabe hervorwächst. Es war und ist vielfach- heute noch die verhängnisvolle Folge liberal - individualistischer und liberal - kollektivistischer Ideologien, daß sie den Inhalt der Freiheit im sozialen Leben und damit den' primären Ausgangspunkt sozialer Gruppenbildung im Geltendmachen, beziehungsweise — organisatorisch gesehen — in der Häufung individueller Interessen sehen. Darum erstreben die sozialen Organisationen zumal bei uns, im kontinentalen Europa — im Bereich der um 1789 entstandenen Ideologien — in ihrer Grundtendenz die einseitige Beherrschung des sozialen Lebens. In unserer Gesellschaft fehlen einfach die sozialen Organe, die bewußt die Ordnung der Aufgaben seitens aller an den Aufgaben Beteiligten zum Ziele hätten. Das Äußerste, was erreicht wird, ist die Vojläufigkeit des mechanischen Ausgleiches der sozialen Machtpositionen, das Gleichgewicht des Tauziehens als „Ordnung“. In den eigentlichen Bereich der Freiheit und Gemeinsamkeit, in den Bereich der sozial umschriebenen Aufgaben aber dringt mit Notwendigkeit, ja zwangsläufig der Staat ein, um immer mehr Freiheitsbereiche auszufüllen und das Streben nach Freiheit immer sinnloser zu machen. In diesem Zusammenhang gäbe es vor allem im Bereich des sozialwirtschaftlichen Lebens genug der Beispiele. Man braucht nur zu beobachten, wie alle Belange, sobald sie der Gesetzgebung unterworfen werden, den Beteiligten aus den Händen genommen werden, um wieder neues Gelände der staatlichen Monpolisierung der gesellschaftlichen Aufgabenkreise hinzu-zugewinnen. Damit kommen sie aber gleichzeitig aus dem Gebiete sachlicher Behandlung in das der Fragen propor-tioneller Machtverteilung. (Auch unter dem Gesichtspunkt der vielzitierten Verwaltungsreform ließe sich manches in dieser Richtung sagen.)

Es tut uns bitter not, daß wir einmal die Gefahrenzonen unserer demokratischen Ordnung kritisch aufzeigen. Wir könnten eine solche Kritik unsere öffentlichen Lebens um so eher durchdenken und durchsprechen, als bei uns manche Ansätze vorhanden sind, um die noch bestehenden Aufgaben- und Verantwortungsräume — in der Wirtschaft und anderswo — in freier Aktivität aller Beteiligten zu ordnen, ehe im Wege eines — vielleicht sehr gut gemeinten — gesetzgeberischen Aktes auch diese Resträume verstaatlicht sind. Der Anfang wird allerdings dort gemacht werden müssen, wo die gemeinsame Aufgabe stark im Vordergrund steht, dort also, wo man nicht von der organisatorischen Auftürmung der Gegensätze lebt, sondern wo man unter ihnen leidet. Gewiß werden auch dann noch die Organisationen der entgegengesetzten Marktinteressen — um die wirtschaftliche Ordnung in den Vordergrund zu stellen — ihre Aufgabe haben, die sich solange einstellen werden, solange wir (noch!)keine herrschaftlich-staatliche, sondern eine frei-vertragsmäßige Ordnung unserer sozialen Belange haben. Die sachliche Notwendigkeit gegensätzlicher Gruppenbildung macht es um so wichtiger, den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung rastlos zu betonen, der seine sozial-strukturelle Entsprechung im Primat der gemeinsamen Aufgabe beim Aufbau des sozialen Lebens hat. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, gleichsam von unten her die große Fehlbildung unserer sozialen Ordnung, den Primat der Interessehäufung als organisatorisches Prinzip, allmählich zu beseitigen mit all seinen katastrophalen Tendenzen der Verstaatlichung, der Zentralisierung und Totalisierung. Die Einheit von Freiheit und Verantwortung muß auch sozial-strukturell realisiert werden.

Es ist hier nicht der Raum, diese Gedanken an Hand bestehender Einrichtungen zu konkretisieren. Das eine aber darf noch gesagt sein. Die Offensive der Freiheit aus den konkreten Räumen gemeinsamer Aufgaben und gemeinsamer Verantwortung, die uns brennend not tut, kann sich auf die harten Lehren der Geschichte unserer Zeit stützen. Denn sie hat uns gelehrt, daß es ein Grundgesetz alles gesellschaftlichen Lebens gibt, das Grundgesetz der Solidarität, das sich als Gesetz des sozialen Seins durchsetzen wird, entweder in der Solidarität des Aufstiegs oder in der Solidarität des Untergangs. Es gibt auf die Dauer und in Zeiten der Entscheidung kein Leben und keine Freiheit der einen auf Kosten der anderen. Noch steht uns die Wahl offen, aber die Anforderungen werden schwerer mit jedem Tag, der ungenützt verstreicht.

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