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Ein Fünftel der Bevölkerung fehlt uns…

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In allen Kulturstaaten werden in regelmäßigen Abständen große Bestandsaufnahmen durchgeführt, die Einblick in die wichtigsten Tatsachen der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und demographischen Entwicklung geben. Die Bedeutung der zahlenmäßigen Stärke eines Volkes für seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Stellung in der Welt kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bevölkerungszahl und wirtschaftlicher Fassungsraum stehen in engem Zusammenhang und bestimmen zusammen mit der Bevölkerungsgliederung die Bevölkerungslage. Wenn nun die Erweiterung des Nahrungsspielraumes eines Volkes mit der Entwicklung der Bevölkerungszahl nicht Schritt zu halten vermag, dann führt dies zur Uebervölkerung; wenn jedoch das Bevölkerungswachstum den Anforderungen der Wirtschaft nicht genügt, so sprechen wir von Untervölkerung. Beide Entwicklungen bergen große wirtschaftliche und politische Gefahren in sich.

Oesterreichs Bevölkerung von 6,933.900 Menschen (Zählung 1951) lebt auf einer Fläche von 83.850 Quadratkilometer. Wenn man die Bevölkerungszahl zur Fläche in Beziehung setzt, so erhält man eine durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 83 Personen pro Quadratkilometer. In Oesterreich, ohne Wien, entfallen auf einen Quadratkilometer nur 63 Personen. Ein Vergleich mit unseren Nachbarstaaten ergibt folgendes Bild:

Mit Ausnahme der Schweiz wiesen unsere Nachbarstaaten sowohl eine größere Fläche als auch eine höhere Bevölkerungszahl auf, nur in Jugoslawien lag die durchschnittliche Dichte unter unserem Stand.

Im Jahre 1869 fand die erste der großen, in regelmäßigen Abständen vorgenommenen Volksaufnahmen des 19. Jahrhunderts statt, weshalb auch die Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung unserer Heimat mit diesem Jahr beginnt. (Die Angaben haben a„;:’.'hmslos den heutigen Gebietsstand Oesterreichs zur Grundlage.) 1869 belief sich die Bevölkerung Oesterreichs auf 4,498.700 Einwohner, 1951 auf 6,933.900, das heißt also, daß in rund 82 Jahren die Bevölkerungszahl Oesterreichs eine Erhöhung um 2,435.200 oder 54 Prozent erfahren hat. Die Verteilung auf die einzelnen Zählabschnitte erhellt die folgende Zeichnung:

Diese Darstellung vermittelt uns einen Ueberblick über die Entwicklung seit 1869. Wir können diese Zeitspanne nun in zwei gleichlange Abschnitte teilen. Bis 1910 ist eine Erhöhung der Bevölkerungszahl um 2,147.300 oder 48 Prozent festzustellen, in den zweiten 41 Jahren jedoch nur noch um 287.900 oder vier Prozent. Die durchschnittliche jährliche Veränderung belief sich also auf -|- 52.400 im Zeitraum 1869 bis 1910 und -|- 7000 im Zeitraum 1910 bis 1951.

Um das wechselvolle Schicksal unserer

Heimat in den letzten 41 Jahren zu veranschaulichen, ist es angebracht, diese Zeitspanne zu unterteilen:

Daraus ist zu ersehen, daß sich die Entwicklung der österreichischen Bevölkerung in die Periode des ständigen Bevölkerungswachstums (1869 bis 1910) und die Periode des gehemmten Bevölkerungswachstums (1910 bis 1951) gliedern läßt.

Eine Zu- oder Abnahme der Bevölkerungszahl kommt durch zwei Bewegungen zustande: Durch die Bilanz der natürlichen Bevölkerungsbewegung, Geburten und Sterbefälle, und durch die Bilanz der Wanderbewegung, Ein- und Auswanderung.

Für die Beurteilung der Veränderungen der Bevölkerungszahl ist es von größter Wichtigkeit, diese verschiedenen Ursachen, die sich in ihren Wirkungen ausgleichen können, näher zu untersuchen, doch würde dies im Rahmen dieses Artikels zu weit führen, so daß nur kurz die Ergebnisse gestreift werden können.

Vor dem ersten Weltkrieg, 1 8 69 bis 19 10-, erhielt die bevölkerungsgeschichtliche Entwicklung ihre Prägung durch das Einströmen von Personen aus allen Teilen der Monarchie in das Gebiet des heutigen Oesterreichs, durch einen relativ hohen Geburtenüberschuß und durch die Tatsache, daß es sich um eine in der Weltgeschichte seltene Zeitspanne ungestörter Entwicklung handelte.

Der Anteil der Wanderbewegüng an der Gesamtzunahme betrug im Zählabschnitt 1869 bis 1880 über 50 Prozent. Von 1880 an ist sowohl eine absolute als auch relative Abnahme des Anteils der Wanderbewegung an der Gesamtzunahme festzustellen. Die natürliche Bevölkerungsbewegung schloß in dieser Periode mit einem beachtlichen Geburtenüberschuß ab, der sich aus einer relativ hohen Geburtenzahl bei rückläufiger Sterblichkeit zusammensetzte. Es ist dies die erste Phase der großen soziologischen Scherenbewegung, die sich im ganzen abendländischen Kulturkreis beobachten läßt. Diese positive Bilanz begann sich jedoch bereits vor dem Jahre 1910 zu verschlechtern. Das Jahr 1902 muß als Wendepunkt in der Geburtenentwicklung bezeichnet werden. Bis zu diesem Jahr waren die absoluten Geburtenzahlen bei leicht fallender relativer Häufigkeit im Steigen begriffen, nach 1902 wiesen auch die absoluten Zahlen eine fallende Tendenz auf, wodurch das Sinken der Relativzahlen verschärft wurde. Diese Feststellung ist von Wichtigkeit, denn sie zeigt, daß wir bereits um die Jahrhundertwende in den zweiten Abschnitt der Scherenbewegung eingetreten sind, in dem sich infolge der Verminderung der Geburtenzahl die Schere wieder schließt, das heißt Geburten- und Sterbelinie nähern sich wieder, da die Intensität des Geburtenrückganges jene der Sterblichkeitsverminderung übertrifft. Für eine Untersuchung der Gründe, die zum Geburtenrückgang und zu der Annahme des „small family pattern“ (Kleinfamilie) führten, ist dies deshalb von Bedeutung, weil (dadurch klargelegt wird, daß der Geburtenrückgang, der sich gleichfalls im ganzen abendländischen Kulfurkreis beobachten läßt, als Folge einer Aenderung in der generativen Verhaltensweise der Bevölkerung zu werten ist.

Die Entwicklung der Bevölkerungszahl Oesterreichs in den Jahren 1910 bis 19 5 1 wird bestimmt durch die immer stärkere Auswirkung des Geburtenrückganges, lie Störungen, die zwei Weltkriege hervorberufen haben und die Einbuße an wirtschaft- ichem Fassungsraum, die unserem Land lurch den Frieden von St. Germain auferlegt wurde.

Die immer stärkere Auswirkung des Geburtenrückganges wird durch die nachstehende Uebersicht verdeutlicht:

Aus dieser aufschlußreichen Darstellung ist ersichtlich, daß bis 1910 die Geburtenziffer um 19 Prozent abgenommen hat, die Sterbeziffer jedoch um 35 Prozent. Seit 1871 bis 1875 hat sich die Geburtenziffer um 54 Prozent, die Sterbeziffer um 60 Prozent vermindert. Wenn man den Durchschnitt 1906 bis 1910 als Meßziffer nimmt, so hat die Geburtenziffer einen 43prozentigen Rückgang aufzuweisen, während die durchschnittliche Sterbeziffer 1948 bis 1952 nur um 39 Prozent unter dem Stand von 1906 bis 19’0 lag.

Bei Würdigung des Geburtendurchschnitts 1948 bis 1952 ist zu berücksichtigen, daß 1948 die Zahl der Lebendgeborenen verhältnismäßig groß war („Nachholbabys“!), 1949 ein jäher Absturz erfolgte und im Jahre 1952 die Lebendgeborenenzahl um 16 Prozent unter dem Stand von 1948 lag.

Im Zählabschnitt 1910 bis 1920 hatte die Bevölkerung Oesterreichs einen Verlust von 219.700 Personen zu verzeichnen, der sich aus folgenden Komponenten zusammensetzte: Unmittelbare Einwirkung des Krieges durch Verluste an Toten, sowohl an den Fronten als auch in der Heimat; mittelbare Einwirkung des Krieges, indem die Geburtenzahl einen starken Rückgang aufzuweisen hatte.

Winkler3 schätzt die Militärsterbefälle auf 180.000 wehrfähige Männer, während er den durch die Abwesenheit der an den Fronten stehenden Männer verursachten Geburten ausfall mit 280.000 beziffert. Die Zivilbevölkerung hatte in diesem Zeitraum eine Mehrsterblichkeit von rund 45.000 Personen aufzuweisen.

Während also diese starken Verluste die Tendenz zur Untervölkerung verschärfen sollten, war anderseits die Einbuße an wirtschaftlichem Fassungsraum so groß, daß Oesterreich zu einem Land mit Uebervölke- rungserscheinungen wurde. Im Zählabschnitt 1920 bis 1934 konnten wohl die Bevölkerungsverluste kompensiert werden, die Geburtenzahl stieg wieder vorübergehend an, erreichte aber nie die Vorkriegshöhe und stürzte dann wieder ab. Die tristen Nachkriegsverhältnisse, steigende Arbeitslosigkeit und Verarmung des Mittelstandes usw. begünstigten die Auswanderung. So sind in diesem Zählabschnitt um 33.000 Personen mehr aus- als eingewandert.

Wenn wir im Abschnitt 1934 bis 1951 ein Bevölkerungswachstum feststellen können, so ist dies vor allem auf folgende Faktoren zurückzuführen: Die stark besetzten, aus einer geburtenfreudigen Zeit stammenden Jahrgänge profitierten von den auf medizinischem und sozialem Gebiet erzielten Fortschritten und eine relativ große Anzahl von ihnen erreicht ein hohes Alter; von der Zunahme der Bevölkerungszahl um rund 174.000 Personen entfallen nur 16.000 auf den Ueberschuß aus der natürlichen Bevölkerungsbewegung, da der Geburtenüberschuß von 263.000 um rund 247.000 Militärsterbefälle bzw. Vermißte zu verringern war, so daß der Rest von 158.000 sich als Saldo der Wanderungsbewegung ergibt. Wir verdanken es also vornehmlich den 394.000 „Displaced persons“, die sich zum Zeitpunkt der Zählung in Oesterreich aufhielten, daß die Bevölkerungszahl noch eine Erhöhung erfahren hat.

Wenn wir auf Grund der beobachteten Entwicklung von 1869 bis 1910 die Bevölkerungszahl des Jahres 1951 mit etwa 8,675.000 errechnen, so wird uns dadurch vor Augen geführt, daß Oesterreich durch die beiden Faktoren, die auf unsere Entwicklung seit 1910 entscheidend eingewirkt haben, Geburtenrückgang und Kriegsein- und -nachwirkungen, einen Ausfall von rund 1,7 Millionen Menschen oder einem Fünftel seiner Bevölkerung erlitten hat.

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