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Geburtenproblem und Familienkrise

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Das Gcburtcnproblcm ist ein Pro-)lem über Leben und Tod der Völker. Wie her konnte die Geburt — der natürlichste Vorgang der Lebenserneuerung — zum „Pro->lem“ werden? Es gibt aber tatsächlich ein jeburtenproblem, und dieses zeigt, wie alle tienschlichen Lebensprobleme, in großer Jeberschau drei Aspekte: eine b i o lo-; i s c h e, eine soziale und eine ethisch-netaphysische Seite.

Wir können das Geburtenproblem unserer ~age auf drei Wurzeln zurückführen:

Die theoretisch-ideologische Wurzel ist die Annahme von Malthus, derzufolge sich die Bevölkerung in geometrischer, der „Nahrungsspielraum'' aber nur in arithmetischer Progression vermehrt. Dadurch kommt es nach Malthus unvermeidlich zur Einengung des „Nahrungsspielraumes“, zum Problem der drohenden „Uebervölkerung“ und der immer schwieriger werdenden Ernährung der Menschheit. Sehr bedeutsam ist bei dieser Lehre die enge ideologische Verbindung mit der Lehre Darwins über den „Kampf ums Dasein“ und über das „Ueber-leben des Tüchtigsten“. Hieraus resultiert die Lehre des Selektionismus, deren verhängnisvolle Auswirkungen auf sozialem und ethischem Gebiet wir schmerzlich erlebt haben.

; Eine historisch-statistische Wurzel unseres Problems reicht bis in die Antike zurück.

: Der Untergang von Assyrien, Babylon, Sparta, Hellas und Rom zeigt uns den Prozeß des Geburtenschwundes in einer unwiderstehlichen Form. Im 19. Jahrhundert sehen wir, wie die Industrialisierung den bis dahin wichtigsten Träger der Wirtschaft, das Handwerk, depossediert, den selbständigen Handwerker zum Lohnarbeiter, zum Arbeitnehmer, zum „Proletarier“ gemacht hat. Eine „arbeitsteilige Wirtschaft“ bewirkt, daß eine große Kinderzahl nicht mehr als Reichtum, als Zuwachs an Arbeitskräften für den Familienvater wirkt, wie in der Zeit, da die Hausgemeinschaft noch Produktionsgemeinschaft war, sondern nur noch als Belastung. Mit der Industrialisierung steigt zwar die Bevölkerungszahl enorm an, entwickeln sich moderne Großstädte, aber der Familienerhalter verliert die Möglichkeit, die Kinderzähl zu erhalten. Die Uebergangszeit zeitigt eine enorme Säuglingssterblichkeit; Reiferscheid hat den Ausdruck „unfruchtbare Fruchtbarkeit“ geprägt, wenn von zehn Kindern acht „für den Friedhof geboren“ wurden und nur zwei überlebten.

Eine soziale Wurzel hat sich gegenwärtig zur stärksten entwickelt. Die soziale Frage ist übermächtig geworden. Sie beruht auf ungerechter Verteilung der Lebensgüter, des „Sozialproduktes“ von Kapital und

Die nachstehenden Ausführungen folgen einem Vortrage, den Univ.-Prof. Dr. Albert Niedermeyer in der Wiener Katholischen Akademie gehalten hat.

Arbeit. Eine materialistische Gesinnung drang zunächst in die Kreise der Besitzenden ein mit deren Streben, soviel Güter als möglich an sich Zu raffen. Kinder werden hierbei als Last empfunden. Dem älteren Rothschild, dem Begründer des Stammhauses, wird das Wort zugeschrieben: „Reich dividiert durch sieben geht nicht“, womit er sagen wollte, er könne sich nicht sieben Kinder „leisten“. Si non e vero, e ben trovato!

So wandelt sich innerhalb eines halben Jahrhunderts der ursprüngliche naive zum rationalen Fortpflanzungstypus (Grotjahn): Die verstandesmäßige Berechnung bricht in ein biologisches Geschehen ein: Von den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts an setzt der allgemeine europäische Geburtenrückgang ein.

Bemerkenswert ist, daß dieser Geburtenschwund zuerst bei den „oberen Zehntausend“ auftritt (Frankreich, Schweden, Schweiz, USA) und erst allmählich die tieferen Schichten ergreift. Ueber die Ursachen wurden — vor allem in den Kreisen der Nationalökonomen — die verschiedensten Theorien entwickelt. Bemerkenswert ist, daß unter den vielen Autoren, die an den z. T. recht geistvollen Theorien beteiligt waren, nicht einer die religiöse Entwurzelung unserer Zeit als Verursachungsfaktor erwähnt hat. Sicher ist so viel, daß jede dieser Theorien einen richtigen Teilfaktor aus dem Geschehen erkannt hat, und daß das Problem nur durch Zusammenfassung aller daran beteiligten Verursachungsfaktoren richtig erkannt werden kann. . • '. • ■ i,s '•«

Ein einfacher Vergleich der absoluten Zahlen der Geburts- und Sterbefälle ergibt kontinuierlich seit zirka 1870 zunächst eine Abnahme des Geburtenüberschusses, der sich schließlich in einen Abgang, ein wachsendes Geburtendefizit, wandelt: Mehr Särge als Wiegen! Die Zuwachsrate wird von der Abgangsrate immer mehr übertroffen. Eine Er-haltungsratc würde fordern, daß an Stelle von zwei wegsterbenden Eltern zwei überlebende Kinder treten. Aus dieser Erwägung fordert Grotjahn unter Berücksichtigung des Um-standes, daß nicht alle Menschen heiraten, nicht alle Ehen fruchtbar sind, nicht alle Kinder am Leben bleiben, ein durchschnittliches „Geburten-Soll“ von 3,5 Kindern pro Ehe; hierbei ist eine Reservequote noch nicht mit berücksichtigt.

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