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Neue Wege der Heimatiorschung

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Im Jahresbericht des Gymnasiums Graz von 1919/20 erschien eine Arbeit von Konrad Prantner über die Bevölkerung von Weichselboden in Steiermark. Dies dürfte in Österreich der erste Fall gewesen sein, wo Kirchenbücher bevölkerungswissenschaftlich verwertet wurden. Leider fand dieses Beispiel damals kaum Nachahmung und man verzichtete lieber auf die recht mühevolle Bearbeitung einer der wertvollsten Quellen. Selbst im größeren Gebiete des Deutschen Reiches blieb die Zahl derartiger Untersuchungen trotz bewußter staatlicher Förderung verhältnismäßig gering.

Um so glüddicher fügte es sich, daß der Vorstand des Geographischen Instituts an der Universität Innsbruck, Univ.-Prof. Dr.

H. K i n z 1, gelegentlich seiner zweiten Forschungsreise nach Südamerika auch die Matriken der Tiroler von Pozuzu (Peru) verwertete. Dazu wurden Vergleiche in der Heimat notwendig, die bald größeren Umfang annahmen, zumal auch zahlreiche Schüler von Univ.-Prof. Dr. K i n z 1 einzelne Gemeinden der westlichen drei Bundesländer mehr oder minder eingehend untersuchten. Die erzielten Ergebnisse rechtfertigten den beträchtlichen Aufwand für eine Arbeit, die nicht nur genügend Kenntnisse in der Landeskunde, sondern auch einige Belesenheit im bevölkerungswissenschaftlichen und mathematisch-statistischen Schrifttum voraussetzt.

Der Verfasser dieser Zeilen kann sich auf einige wichtige Resultate seiner eigenen (noch nicht veröffentlichten) Untersudiungen am genannten Institut berufen . Dabei wurden auf einem Streifen von 9 km Länge und 3 km Breite vier Landgemeinden im tiroli- schen Unterinntal durch drei Jahrhunderte betraditet. EHe bäuerliche Bevölkerungszahl dieses ehedem rein, heute gerade noch halb landwirtschaftlichen Gebiets hat sich von 1615 bis 1730 fast verdoppelt, nahm dann bis 1780 rasch, seit 1820 aber nicht mehr wesentlich ab. Dabei wurde etwa e i n V i e r- tel aller Höfe als selbständige Betriebe aufgelassen. Gleichzeitig erfolgte der allmähliche Übergang vom Ackerbau zur extensiveren Viehzucht, der aber seit ungefähr 1800 doppelte Intensität erreichte.

Die Häufigkeit der Eheschließungen zeigte eine erhebliche Abhängig-

Nr. 4 der „Furche" veröffentlichte unter „Notizen“ eine auszugsweise Darstellung, deren Wesensgchalt auf den Verfasser vorstehenden Aufsatzes zurückgeht und hier eine wichtige Durchleuchtung erhält. „D. F."

keit von diesen Wandlungen sowie von Wirtschaftskonjunktur und Sterblichkeit der Elterngeneration. Das Heiratsalter wurde im Mittel der Gesamtzeit für Männer zu etwa 36, für Frauen zu 30 Jahren errechnet, hat sich aber seit 1840 ständig erniedrigt. Ehescheidungen sind bis 1939 — so weit wurden die Quellen benützt — nicht vorgekommen. Ferner ergab sich eine erhebliche Bedeutung des Wohlstands. Die Wohlhabendsten heiraten am stärksten unter sich und in früherem Alter; aus ihren Ehen entsprangen im Mittel 6V2 Kinder gegen nur 4Vs bei den weniger Begüterten. Selbst bei Berücksichtigung dieses bedeutenden Unterschiedes verhalten sich die Heiratswahrscheinlichkeiten der Bauerntöchter der Groß- und Kleinbauern wie drei zu zwei.

Die Kinderzahl der Ea m i 1 i e n hat bis etwa 1900 zugenommen, wird aber seitdem durch den Geburtenrückgang angegriffen — eine Gefahr für die weitere Bodenständigkeit. Die Unehelichkeit betrug mit etwa 7 Prozent bei Bauern, ebenso wie bei Nichtbauern weniger als innabwärts, aber mehr als innaufwärts. Um 1700, 1840 und 1890 erreichte der Anteil der Unehelichen Höhepunkte, jedoch nie über 12 Prozent.

Wohl als Folge des Verfalls der Still-

itten hat sich der Geburtenabstand bis Ende des vorigen Jahrhunderts stark verringert. Gleichzeitig mit der verstärkten Anwendung der Ernährung aus der Flasche stieg die Säuglingssterblichkeit bis zu 30 Prozent. Moderne Medizin und Geburtenrückgang drängten sie seitdem weit zurück, konnten aber die - Aufwuchsziffern des 19. Jahrhunderts nicht behaupten. Wie auch durch anderweitige Statistik bekannt, ist die Sterblichkeit unehelicher Kinder erheblich größer als die ehelicher. Im Durchschnitt der Jahre 1780 bis 1939 starben von 100 ehelichen Kindern 15, von ebensoviel unehelichen aber 25 vor Erreichen des sechsten Lebensjahres. Auch die Kindbettsterblichkeit hatte um 1850 ihren Höhepunkt. Damals staib im langjährigen Mittel bei jeder 73. Geburt eine Mutter.

Ziemlich unabhängig von diesen Untersuchungen wurden gewisse jahreszeitlichperiodische Erscheinungen an Eheschließungen, Geburten und Todesfällen behandelt. Die Ehen wurden früher meist im Februar, neuerdings aber mehr im April und November geschlossen. Die Erstgeburten folgen getreu diesem Verlauf mit entsprechendem Abstand. Die übrigen ehelichen und auch unehelichen Konzeptionen haben ihren

Höhepunkt im Frühling, letztere audi im Winter. Die Bedeutung dieser Gesetzmäßigkeit ergibt sich aus der Lebenswahrscheinlichkeit der in verschiedenen Monaten geborenen Kinder. So starben von 100 April- kindem nur 15 binnen Jahresfrist, von 100 Julikindern aber 28.

Zuletzt wurden Fragen der Boden ständigkeit örtlich geklärt. Im 17. Jahrhundert waren noch in 56 von 100 Fällen beide Ehepartner aus dem Untersuchungs gebiet. Nur in drei Fällen waren beide ortsfremd. Im 2 0. Jahrhundert waren es dagegen nur mehr 3 2,

beziehungsweise aber 2 0! Der Anteil der ortsfremden Bräute, der begreiflicherweise schon immer weit über dem der Männer lag, hat in dieser Zeit von etwj 50 Prozent auf 70 Prozent zugenommen Die Inzucht ist völlig unbedeutend geblieben und nach dem heutigen Stande noch geringer, als es der'Anteil von 1,7 Prozent Ehen mit Dispens wegen Blutsverwandtschaft' (bis zum dritten Grad) besagt.

Obwohl die Erbhöfe nach Landesgesetz (200 Jahre im Mannesstamm) nur 4 Prozent ausmachfen, ist die Bodenständigkeit der Bauern doch als groß zu bezeichnen. Denn von 100 Bauern stammen heute noch 39 aus dem Untersuchungsgebiet, wenngleich von anderen Höfen. Ja selbst von den Großeltern der Urgroßeltern der heutigen Bauern lebte ein Viertel im Gebiet der vier Gemeinden, ein weiteres Viertel im zusätzlichen Umkreis von 10 Kilometern und nur ein Viertel in Orten mit mehr als 30 Kilometer Entfernung. Dies erweist hohe Bodenständigkeit in biologischem Sinn selbst in einem Haupttal der Alpen, in dem seit jeher lebhafter Verkehr herrschte.

Soweit an einem Beispiel die Ergebnisse von Kirchenbuchuntersuchungen. Zweifellos werden die Forschungsmethoden weiter verfeinert, manche Ergebnisse verbessert, erweitert oder örtlich beschränkt werden. Unabhängig vom weiteren Schicksal der jungen Forschunssrichtung. ist bereits heute ihr Wert für die gesamte geographische und geschichtliche Landeskunde, für die allgemeinen Zweige beider Wissenschaften für Volkskunde, Soziologie, ja selbst für Medizin und Pastoraltheologie unverkennbar.

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