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Der Geburtenüberschuß schlug ins Negative um

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Die Akademie der Wissenschaften errichtete kürzlich ein Institut für Demographie. Im Rahmen der Präsentation des neuen Instituts sprach Prof. Dr. Max Wingen von der Universität Bochum und dem deutschen Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit über „Bevölkerungspolitik -aber wie?“ Mit der Gründung des neuen Institutes wurde der neuerlichen und nunmehr im besonderen gesellschaftlichen Bedeutung der Bevölkerungswissenschaft Rechnung getragen.

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Die Akademie der Wissenschaften errichtete kürzlich ein Institut für Demographie. Im Rahmen der Präsentation des neuen Instituts sprach Prof. Dr. Max Wingen von der Universität Bochum und dem deutschen Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit über „Bevölkerungspolitik -aber wie?“ Mit der Gründung des neuen Institutes wurde der neuerlichen und nunmehr im besonderen gesellschaftlichen Bedeutung der Bevölkerungswissenschaft Rechnung getragen.

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Wenn in den Jahren nach 1945 die Rede auf Bevölkerungspolitik kam, war jedes Gespräch durch die Erinnerung an die „pronationalistische“ Geburtenpolitik der Nationalsozialisten belastet. Die spektakuläre Entwicklung der bundesdeutschen Geburtenrate, die Tatsache, daß die Nettoreproduktionsziffer -jene Rate, die angibt, wie viele Mädchen im Durchschnitt von einer Frau im Laufe ihres Lebens geboren werden und ihrerseits wieder das Alter, das ihre Mutter bei ihrer Geburt gehabt hat, erreichen werden -, in Deutschland bereits längere Zeit negativ ist,.war nun Anlaß für die Deutschen, sich wieder den Problemen der Bevölkerungspolitik zuzuwenden, und diese gleichzeitig als Gesellschaftspolitik zu verstehen. Man muß es sehr begrüßen, daß nunmehr eine emotionsfreie wissenschaftliche Einführung in die Bevölkerungspolitik vorliegt*, die nicht nur die Aspekte erörtert, unter denen gegenwärtig das Problem der Geburtenentwicklung weltweit erörtert wird, sondern auch um eine Systematisierung des Gegenstandes bemüht ist.

Die Bevölkerungsentwicklung jedes Landes ist von zwei Faktoren bestimmt, von denen der eine - die Todesfälle - in seiner Größe normalerweise weitgehend vorhersehbar und auf kurze Frist relativ konstant ist. Anders die Geburtenrate. Sie - ihre Beeinflussung - ist das eigentliche ideelle und operationalisierbare Ziel der jeweiligen Bevölkerungspolitik, deren Aspekte von der gegebenen Situation bestimmt sind. Im allgemeinen ist nun die Bevölkerungspolitik eine quantitative; wenn sie Einfluß auf eine schichtenspezifische Strukturierung der Bevölkerung, vor allem unter Be-dachtnahme auf das Gefüge der Erwerbsbevölkerung, zu nehmen sucht, ist sie qualitativ orientiert.

In der Bundesrepublik Deutschland übersah man als Folge des täuschenden permanenten Steigens der Bevölkerung in der Nachkriegszeit durch einen Wanderungsüberschuß die Tatsache, daß die natürliche nur-deutsche Bevölkerungsentwicklung bereits längere Zeit eine negative Rate aufwies, und nicht erst 1973, als zum ersten Male sogar der Gesamtsaldo negativ war: Zwischen 1964 und 1973 nahmen die Geburtenzahlen der bundesdeutschen Bevölkerung um nicht weniger als 40 Prozent ab, bei leicht steigender Sterberate.

Die Ursachen für den Geburtenrückgang, dessen Folgen keineswegs einheitlich beurteilt werden, sind nicht allein, wie oft vermutet, die Altersschichtung der Bevölkerung, sondern - und nun vor allem - der Stil des generativen Verhaltens, der sich im Absinken der Kinderzahl je Ehe und im relativen Ansteigen der kinderlosen Ehen anzeigt.

Nun ist generatives Verhalten Ausweis einer Spontaneität; diese selbst ist aber wieder das Ergebnis einer langfristigen sozialen Beeinflussung. Daher muß sich eine auf das generative Verhalten der Bevölkerung bezogene Bevölkerungspolitik auch als Gesellschafts-, wenn nicht als Kulturpolitik verstehen. Auch dann, wenn die Verhaltensfreiheit der Ehepartner unangetastet bleiben soll.

Die elementaren Aspekte der auch für Österreich aktuell gewordenen Bevölkerungspolitik sind nun eine Orientierung entweder an einer Stabilisierung oder an einer Änderung der im Land gegebenen Bevölkerungszahl. Im Westen wird gegenwärtig vielfach ein Ende des Wachstums, also eine Stabilisierung der Bevölkerung, angesteuert. Wenn nunmehr bereits auch einem Rückgang der Bevölkerung positive Folgen zugeschrieben werden, dann nicht allein unter Be-dachtnahme auf das Fehlen von angemessen großen quantitativen Versorgungschancen, sondern auch wegen der in manchen Regionen bereits kritisch großen Bevölkerungsdichte (der „unerträglichen“ Größe), die ein Relatives ist.

Verminderte Bedeutung wird dagegen dem Zusammenhang von Wachstum des Bruttonationalproduktes und Änderung der Bevölkerungszahl beigemessen, auch aus der Erkenntnis, daß das Wachstum nicht allein von der Zahl der Produzenten, sondern auch von der Je-Kopf-Produktivität abhängt, die wieder durch eine Änderung der Sollarbeitszeiten, der Ausbildung und der Kapitalausstattung wesentlich bestimmt werden kann.

In Österreich stellt man, auf Basis der Daten vom 31.12.1976,im Sommer 1977 eine Bevölkerungsprognose. Die durchschnittliche Gesamtbevölkerung wurde'im Rahmen einer Fortschreibung des Altersaufbaues der österreichischen Bevölkerung bei gleichzeitigen Wanderungsschätzungen für 1975 mit 7,520.000 angenommen.

Die Prognosen zur Entwicklung der österreichichen Bevölkerung gewinnen einen hohen Bedeutungsrang, da die Geburtenrate 1975 mit 12,5 je 1000 den „tiefsten, je in Österreich registrierten Stand“ aufweist („Statistische Nachrichten“, 10/1976, S. 662). In Europa liegen im Vergleichsjahr nur die BRD (9,7), die DDR (10,8), Belgien (12,3) und Großbritannien (12,4) unter der österreichischen Rate.

Die Folge: Einem fast kontinuierlichen Geburtenüberschuß in den letzten 100 Jahren, der 1875 5,2 betrug, 1902 sogar 9,4 und lediglich 1919 als Kriegsfolge sowie zwischen 1935 und 1938 unterbrochen wurde, steht 1975 zum ersten Mal seit 37 Jahren ein Geburtenabgang von 0,3 gegenüber - in Wien sogar von minus 7,7!

Welche Position man persönlich in der wertaufgeladenen Diskussion um die Geburtenziffer auch immer einnimmt, ob man eine Korrespondenz von Recht zum Kind und (nationaler) „Pflicht“ zum Kind annimmt oder völlig anderer Auffassung ist: Das Bemühen der Akademie der Wissenschaften und des Statistischen Zentralamtes, über ein Institut für Demographie diese zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen und zum Ansatz von pragmatischen Prognosen zu machen, muß begrüßt werden.

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