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Kein sterbendes Land

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In der Vergangenheit spukte die Idee vom letzten Endes noch nicht lebensfähigen Österreich in vieler Leute Unterbewußtsein häufiger herum, als es für das österreichische Selbstbewußtem gut war. Die Vorstellung, Österreich sei ein sterbendes Land, war ein Teil dieses Traumas der Ersten Republik. In der Zweiten Republik schien es zunächst eine Begleiterscheinung des Wiederaufbaues und des anlaufenden Wohlstandes zu sein, daß die Zahl der Geburten extrem niedrig blieb, und daß nur das nach 1945 starke Sinken der Zahl der Sterbe- fälle, also die Erhöhung der Lebenserwartung, jenen unglücklichen Zustand verhinderte, der bereits zwischen 1935 und 1938 geherrscht hatte: daß in Österreich die Zahl der pro Jahr Sterbenden die Zahl der Lebendgeburten übertrifft, daß also Österreichs Bevölkerungszahl (vernachlässigt man die Ein- und Auswanderungen) abnimmt.

Wie man aber der Publikation des österreichischen Statistischen Zentralamtes „Die natürliche Bevölkerungsbewegung im Jahre 1964” entnehmen kann, war bereits 1951 mit 102.764 Lebendgetourten der Tiefstand erreicht. Von da an ging es bis 1955 zögernd, ab 1956 rasch aufwärts. Der Geburtenüberschuß von 1961 (45.890) wird nur von den Jahren 1896 bis 1910, 1912, 1923 und 1940 übertroffen (1940 allerdings ohne Einrechnung der Miliiitärsterbe- fälle!). Die Zahlen der Geburtenüberschüsse seit 1961 (1962: 42.399, 1963: 43.230, 1964: 44.760) zeigen, daß sich die Relation von Lebendgeburten und Sterbefällen auf einen Geburtenüberschuß von etwas mehr als 40.000 eingependelt hat (vergleiche Tabelle 1; für die Zeit der Weltkriege ohne Militärsterbefälle).

Nach der Volkszählung von 1961 hatte Österreich 7,073.807 Einwohner. Die zirka 40.000 „Neo-Öster- reicher”, die etwa der Einwohnerzahl einer mittleren Stadt entsprechen, bedeuten eine jährliche Vermehrung der Einwohnerzahl von zirka sechs Proinille. Als die Sowjets noch mit China befreundet waren, sagte einmal Chruschtschow zum chinesischen Geburtenüberschuß von mehr als 13 Millionen: „Jedes Jahr eina neue Tschechoslowakei!” Wir sind bescheidener, aber immerhin bekommen wir Österreicher jedes Jahr ein neues St. Pölten.

Österreich liegt in der europäischen Tabelle in der unteren Mitte, mehrere Länder (Belgien, Ostdeutschland, Luxemburg, Schweden, ČSSR und Ungarn) haben einen geringeren Geburtenüberschuß als Österreich. Österreichs Relation von Leibendgeburten und Todesfällen ist also im Vergleich zur Ersten Republik und zu den anderen Staaten Europas gesundet. Niemand kann mehr von einem sterbenden Österreich sprechen. Soweit, so gut.

West-Ost-Gefälle

Etwas komplizierter wird die Situation, betrachtet man die Geburtenüberschüsse der einzelnen österreichischen Länder. Seit Jahren ist Vorarlberg das Bundesland mit dem größten Geburtenüberschuß, das Land am anderen Ende der Skala, Wien, hatte immer einen, (allerdings langsam kleiner werdenden) Geburtenabgang.

Der Geburtenüberschuß der Bundesländer 1964 (in Promille der Einwohnerzahl) :

Das starke Gefälle der Geburtenüberschüsse ist mehr ein Gefälle von West nach Ost als ein solches vom Land zur Stadt. Daß der Geburtenabgang Wiens nicht für Österreichs Großstädte charakteristisch ist, beweisen die Geburtenüberschüsse von Graz und Linz: In Graz gaib es 1964 3519 Lebendgeburten und 3214 Todesfälle, in Linz war diese Relation im selben Jahr 3132 zu 2040.

Wien mit dem großen Mißverhältnis von Geburten und Todesfällen (1964: 19.952 zu 25.786) ist also für Österreich durchaus atypisch. Außerhalb Wiens gibt es nur zwei politische Bezirke, die 1964 einen Geburtenabgang zu verzeichnen hatten: Wr. Neustadt/Stadt und Mödling. Überhaupt sind fast alle größeren Gemeinden mit Geburtenabgängen niederösterreichiisch (zum Beispiel: Wr. Neustadit, Baden, Ybbs, Gloggnitz, Tulln, Retz, Mödling, Klosterneuburg).

Es liegt auf der Hand, daß die starke Differenzierung der Geburtenüberschüsse innerhalb Österreichs verschiedenartige Folgen nach sich ziehen muß: Folgen sozialer, ökonomischer und politischer Natur. Wien kann zwar den Geburtenabgang durch seine Anziehungskraft, die es vor allem auf die Landbevölkerung ausübt, ausgleichen, aber das bedeutet nur eine Verschiebung der nachteiligen Folgen in ein anderes Gebiet.

Die Höhe des Geburtenüberschusses (oder -abganges) steht mit der Ehefreudigkeit der Österreicher in keinem Zusammenhang, Vorarlberg und Wien sind seit Jahren die ehefreudigsten Bundesländer (1964:

9,0 beziehungsweise 9,1 Eheschließungen auf 1000 Einwohner), das BuTgenland ist das eheunwilligste Bundesland (1964: 6,1 Eheschließun gen auf 1000 Einwohner). In ganz Österreich ging die Zahl der Eheschließungen, die unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt erreicht hatte (9,9 auf 1000 Einwohner), seit 1961 langsam zurück (1964: 8,0 auf 1000 Einwohner). Die Kurve der Eheschließungen verhält sich interessanterweise zur Kurve des Geburtenüberschusses fast verkehrt proportional.

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