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Rotes Biologie-Defizit

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In der Bundesrepublik wurden 1968 auf 1000 Einwohner 19,7 Lebendgeburten gezählt. 1950 waren es 16,5 gewesen, 1960 17,8. Der steigende Wohlstand manifestiert sich erstaunlicherweise auch in einer steigenden Geburtenrate. Das kinderfreudige Holland, 1950 noch bei 22,7 Geburten, sank auf 18,6, die skandinavischen Länder sind 1968 bei 14,3 (Schweden) und 15 (Dänemark) angelangt. Österreich hielt sich ziemlich konstant. Von 15,6 Geburten pro Tausend im Jahr 1950 fiel die Zahl auf 15,2 im Jahr 1970. Das Bild hat also verwirrende Linien, der steigende Wohlstand führt in der Kinderfreudigkeit zu sehr verschiedenen Ergebnissen.

Anders in den kommunistischen Ländern. Die DDR, ohnehin infolge der Abwanderung nach Westdeutschland bis zum Mauerbau ausgeblutet und in der Alterspyramide immer ungünstiger strukturiert, sank von 16,5 auf heute 14,3 Geburten pro Tausend der Bevölkerung. Sie hat damit den „Rekord“ Schwedens erreicht. Die Tschechoslowakei folgt ihr auf dem Fuß. Hier ist das Gefälle noch auffälliger: 23,3 — 15,9 — 15,1. Überraschenderweise reiht sich Ungarn unterschiedslos ein. Dort waren es 1950 noch 21 Lebendgeburten aufs Tausend, 1968 gleichfalls nur noch 15,1.

Polen hat den gewaltigsten Sprung getan. Waren hier 1950 noch 30,7 Geburten zu verzeichnen, so 1968 nur noch 16,3! Ähnlich ist es in Rumänien: von 30,3 sank die Ziffer auf 18,9. Selbst das überwiegend agrarische Bulgarien bewegt sich abwärts, von 21,7 auf 17. Die Sowjetunion schließlich blieb von der gleichen Entwicklung nicht verschont. 1950 hatte sie noch 26.5 Lebendgeburten pro Tausend zu verzeichnen — 1968 nur noch 17,3. Drei Länder — Bulgarien, Rumänien und die UdSSR — liegen also im westeuropäischen Mittel, vier — Polen, die DDR, Ungarn und die CSSR — teilweise erheblich darunter.

Die Zahlen verblüffen. Was verbirgt sich hinter ihnen? Zunächst muß in Erinnerung gerufen werden, daß in sämtlichen osteuropäischen Staaten die Abtreibung ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden kann. Ein ärztliches Zeugnis genügt, die Abtreibung selbst wird kostenfrei in jedem Krankenhaus durchgeführt. In der CSSR überstieg die Zahl der abgetriebenen Kinder in den vergangenen beiden Jahren oft genug jene der zur Welt gebrachten, in der DDR und in Ungarn ist es nicht viel anders. Dabei ist zu beachten, daß die sozialen Vergünstigungen für die werdende Mutter, für die Entbindung und nachher für Mutter und Kind weit über dem westeuropäischen Durchschnitt liegen. Selbst Österreich mit seinen Aufwendungen für den Nachwuchs kann hier nicht Schritt halten.

Die Gründe für die sinkende Kinderfreudigkeit liegen also anderswo. Die Wohnungsmisere steht im Osten ganz obenan, sie wiederum erzeugt die enorme Scheidungsziffer. Die so entstehenden Ehen sind außerordentlich labil, und die geringe Geburtenzahl ist sozusagen ein Akt der Notwehr und Vorsorge. Die Heime können die verwahrlosten Kinder ohnehin nicht mehr fassen. Als zweites ist die abnorm hohe Erwerbstätigkeit der Frauen zu nennen. Ein einziger Lohnempfänger könnte nicht einmal das Nötigste herbeischaffen. Welche Frau aber wünscht sich Kinder, um sie hernach nur in Krippen und Kindergärten zu lassen? Drittens und letztens: noch immer leben die meisten Bewohner Osteuropas in einem Als-ob-Zustand. Die staatlichen Maximen sind ihnen von Herzen verhaßt, die Schule entfremdet die Kinder vom ersten Tag an systematisch ihren Eltern. Wen wundert's, daß die Geburtenfreudigkeit sinkt?

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