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Neu-Malthusianismus in Österreich?

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Die Bevölkerungsstatistik nimmt für Österreich immer härtere Züge an. Nach dem Ausweis des Statistischen Zentralamtes behauptete die Zahl der Lebendgeborenen im Jänner 1952, für das ganze Land berechnet, nur, einen knappen Vorsprung von 648 gegenüber den Gestorbenen; den 7761 Lebendgeburten mußten 7113 Todesfälle gegenübergestellt werden. Im Jänner 1950 war die Zahl der Lebendgeburten (8334) gegenüber den Todesfällen (7423) wenigstens noch mit 911, vorangeblieben. Ganz schlimm ist der Zustand in Wien. Der Bevölkerungsausfall der Großstadt, deren Bewohnerschaft ein Viertel des gesamtösterreichischen Bevölkerungszuwachses stellen sollte, nimmt, hervorgerufen durch soziale Mängel, an erster Stelle die Wohnungsnot, aber auch durch Ursachen, die auf der sittlichen Ebene liegen, einen immer bedrohlicheren Umfang an. Im Jänner 1950 verzeichnete Wien mit 2213 Todesfällen, denen nur 1200 Lebendgeburten gegenüberstanden, ein Monatsdefizit von 1013, im Jänner 1952 betrug dieser Ausfall 1290, denn es konnten deri 2307 Todesfällen nur 1017 Lebendgeburten gegenübergestellt werden. In allen Monaten des Jahres 1951 war die Geburtenzahl unter jene des vorangegangenen Jahres abgesunken. Nach Wien folgt mit der ungünstigsten Bevölkerungsbewegung an erster Stelle das städtereichste Bundesland Niederösterreich, das zwar ein Ak- tivum an Lebendgeburten, aber unter den übrigen Bundesländern den verhält nismäßig geringsten Bevölkerungszuwachs aufweist.

Im ganzen gesehen, ein makabres Bild Und justament diesem österreichischen Volk, dem sich schon da und dort die Falten sinkender Lebenskraft in die Züge seines Gesichtes zu legen scheinen, geht der Ruf zu: „Mehr erzeugen, weniger zeugen 1“ Wieder wird der neumalthusianistische Popanz den Menschen vor das Haus gestellt: Dieser Planet übervölkert sich! Seht euch vor! Setzt weniger Kinder in die Welt! Bedenkt, jährlich vermehrt sich derzeit die Erdbevölkerung um 26 Millionen, 1930 wurden 1972 Millionen Erdbewohner errechnet, 1951 war — angeblich — ein Höchststand von 2416 Millionen erklommen. Also wird der Lebensraum des einzelnen Menschen immer enger, die Gefahr künftiger allgemeiner Hungersnöte immer größer. Also Mensch, baue heute 6chon vor!

Das ist die alte Walze der Weltverbesserer, die von Zeit zu Zeit mit ihren pseudowissenschaftlichen Komplexen die Menschheit befallet, immer wieder von der Forschung und durch die Errungenschaften der Nahrungsmittel- Wissenschaft eines Besseren belehrt und in ihren Angstträumen für eine Zeit lang beruhigt, bis sie durch irgendeinen neuen Reiz wieder aufgeschreckt werden, und sei es nur durch die geschäftstüchtige Propaganda einer Präventivmittelindustrie. Tausende amerikanische Firmen für Geburiinverhinderungsmittel haben sich, auf Japan gestürzt, als in den letzten Jahren die Offiziösen, anstatt für einen .natürlichen Abfluß des Bevölkerungs- Überschusses in menschenarme Lebensräume zu sorgen, ihr Feldgeschrei für die künstliche Dezimierung des japanischen Kindes erhoben.

Längst ist das Dichterwort „Raum für alle hat die Erde keine bloße schöngeistige Wendung mehr, sondern wissenschaftliche Erkenntnis. Das Problem der Übervölkerung ist nicht zuletzt ein Verkehrs- und Transportproblem. Ungeheuere Flächen in den großen Erdteilen harren heute noch der Erschließung ihrer Reichtümer durch menschliche Arbeit. Der Haushaltsplan der Schöpfung spornt die menschlichen Energien stets aufs neue zur Bewahrung der Existenz an und belohnt dafür den Menschen. Afrika allein, der drittgrößte Erdteil, dreimal so groß wie Europa und nur von 180 Millionen Menschen bewohnt, ist allein schon eine riesige Schatzkammer an Fruchtbarkeitsreserven, Energie- und Atomkraftquellen. Eben jetzt ist Brasilien, der größte südamsrikanische Staat, achtzehmnal größer als das Deutsche Reich der Vorkriegszeit und vielleicht an Fruchtbarkeit und Bodenschätzen das hoffnungsvollste Land der Einwanderung, im Begriff, durch großzügige Straßenbauten bisher der planmäßigen Nutzung und dem Handel unerreichte Weiten zu eröffnen. Zu gleicher Zeit stellt sich der Nahrungsmittelbeschaffung aus dem Ackerboden eine hochgezüchtete, auf das gleiche Ziel gerichtete chemische Industrie zur Seite. Während sie vom Erdgas zum Traubenzucker gelangt, stellt der Atomphysiker fest, daß die Atomstrahlung die pflanzliche Natur zu nie gesehenen Leistungen befähigt. Immer aufs neue erfährt an solchen Beispielen der Mensch, daß der Schöpfer der Welten sein Werk mit Reichtümem ausgestattet hat, die in ihrer Unermeßlichkeit aller menschlichen Versuche einer Schlußbilanz und nicht zuletzt der Katastrophentheorie der Neu-Malthusianisten spotten.

Was mag da das Hauptorgan des österreichischen Sozialismus veranlaßt haben, in seiner Nummer vom 15. März seinen in Großlettern zusammengepreßten Schrei Mehr erzeugen, weniger zeugen!“ mit einem Großartikel zu begleiten, der seine Parteigetreuen vor dem Kinde gruseln machen will? Es ist verständlich, wenn einer Weltplanwirtschaft das Wort geredet wird, in der „Ost und West sich verbinden müssen“, aber unverständlich ist es, daß in einem verantwortungsbewußten Blatt, das zum publizistischen Führer und Ratgeber einer Volksbewegung berufen sein sollte, in einer so ernsten Frage wie der um die Zukunft der Menschheit die Bequemlichkeitsmoral der Genießer mit dem Satz befürwortet wird: „Die gesamte Menschheit müßte sich um die Aufrechterhaltung ihres Daseins bedeutend weniger plagen, wenn sie sich einmal überzeugt hätte, daß vernunftbegabte Wesen auch bei der Frage ihrer Fortpflanzung Vernunft anzuwenden haben.“

Ist das nur ein Einzelfall eines Außenseiters oder ist es Doktrin? Nicht unabwendbare Hungerkatastrophen bedrohen uns, aber ginge es nach dem Rezept der Geburtenbeschränker: das Verschlungenwerden des kinderarmen Europa von den kinderreichen Völkern der östlichen Steppen.

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