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Haushaltsgröße und Wohnraum

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Im allgemeinen besteht die Neigung, unter den vielen Ursachen, die zur heutigen Wohnungsnot geführt haben, den direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges die Hauptrolle zuzuweisen, also Zerstörungen und Beschlagnahmen, vor allem aber dem ungeheuren Strom heimatloser Flüchtlinge, der sich bei Kriegsende nach Österreich ergoß. Nun wohnen aber gerade diese Flüchtlinge auch heute noch zum weitaus größten Teil in Barackenlagern, die gleichfalls erst während des Krieges entstanden sind. Man könnte sich also, rein methodisch gedacht, beide — die Baracken und ihre Bewohner — wegdenken, aber siehe da, die Wohnraumnot bleibt auch dann weiter bestehen! Nun zeigt sich aber bei näherem Zusehen, daß die Bevölkerungszahl Österreichs ohne den Flüchtlingszuwachs seit dem Jahre 19 14 nur ganz unwesentlich gestiegen ist. Dieser Zuwachs entfällt außerdem fast zur Gänze auf die westlichen Bundesländer, während Wien seit dem ersten Weltkrieg fast 300.000 Einwohner verloren hat. Gerade aus diesem Grund ist es interessant, sich zunächst einmal mit der Wiener Wohnungslage zu beschäftigen.

Gewiß hat die Stadt schwere Kriegsschäden erlitten, die jedem Wohnungssuchenden doppelt schmerzlich zum Bewußtsein kommen. Aber Wien hat doch auch großzügig gebaut, über 60.000 Wohnungen wurden allein in der Zeit zwischen den beiden Kriegen von der Stadtgemeinde geschaffen und überall am Stadtrand entstanden Tausende von Villen und Siedlungshäusern. Zählt man Wiederaufbauten und Neubauten seit 1945 dazu, so wird man unschwer erkennen, daß die stark zurückgegangene Bevölkerung Wiens trotz aller Ausfälle auch heute noch mehr Raum pro Kopf zur Verfügung hat als die mehr als zwei Millionen Wiener vor 40 Jahren, die' den Begriff .Wohnungsnot“ scheinbar noch nicht kannten. Hier muß eine Tatsache ins Auge gefaßt werden, die häufig übersehen wird, daß nämlich der Wohnungsbedarf nicht so sehr von der Zahl der Einwohner, sondern vielmehr von jener der Haushalte abhängig ist. Kinderzuwachs in einer Familie hat ja nur selten eine Wohnungsänderung zur Folge, so daß auch ein verhältnismäßig starkes Wachstum sich nicht sofort, sondern erst in 20 bis 30 Jahren auf dem Wohnungsmarkt bemerkbar macht. Nun ist es aber bestimmt nicht übertrieben, die durchschnittliche Haushaltsgröße für Wien im Jahre 1914 noch mit mindestens fünf Personen anzusetzen, was eine Haushaltszahl von etwas über 400.000 ergibt, während sich die rund 1,8 Millionen heute auf fast genau 70 0.0 00 Haushalte verteilen. (Februar 1951: 699.000.) Der innerhalb weniger Jahrzehnte erfolgte Ubergang von der Groß- zur Kleinfamilie brachte also trotz des absoluten Bevölkerungsrückganges eine derart sprunghafte. Steigerung der Haushaltszahlen und damit der Wohnungsanforderungen, daß eine rasche Befriedigung selbst unter günstigeren Voraussetzungen, als sie gegenwärtig in Bauwirtschaft und Wohnungsgesetzgebung * herrschen, kaum möglich wäre.

Eine Vorstellung von der Tragweite dieses Problems wird vielleicht am besten durch einen Vergleich sichtbar, in dem wohl ein Extremfall angenommen wird, der jedoch in etwas abgeschwächtem Maße für Hunderttausende von Fällen seine Geltung hat. Verglichen wird dabei der Wohnraumbedarf einer zehnköpfigen Familie mit jenem von fünf kinderlosen Ehepaaren bei ungefähr gleichem Wohnstandard. Angemessener Wohnbedarf eines kinderlosen Ehepaares:

Wohnküche 15 ms

Schlafzimmer 20 m2 Gästezimmer . 15 m2 Febenräume 10 m2 Zusammen 60 m8

Für fünf kinderlose Ehepaare: 300 m2 für zehn Personen.

Angemessener Wohnbedarf für Familien mit acht Kindern:

Elternschlafzimmer und Gästezimmer werden gegenüber dem obigen Beispiel gleichbleiben, die Nebenräume hur unwesentlich größer werden, zusammen also rund 50 Quadratmeter ausmachen; dazu kommen dann:

Wohnzimmer 20 m*

Küche 15 m2

3 Kinderzimmer ä 15 = 45 m' Zusammen rund 130 m2 für zehn Personen!

Es zeigt sich also, daß trotz großzügiger Berechnung der Familienwohnung bei mittelhohen Wohnansprüchen fünf K1 einhausha11e nahezu den dreifachen Wohnraum benötigen wie eine Großfamilie mit gleicher Kopfzahl. Wer aber die biologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Österreich studiert hat, weiß, was das für den Wohnungsmarkt bedeutet.

Eine weitere Belastung entsteht aber namentlich für Wien noch durch eine mit dieser Entwicklung eng zusammenhängende Tatsache. Infolge des riesigen Geburtendefizits (es betrug im Jahre 1930 rund 10.000) wird auch die gegenwärtige Einwohnerzahl nur durch ununterbrochenen Zuzug aus den Bundesländern gehalten. Zugewanderte brauchen aber im Gegensatz zu Neugeborenen eine Wohnung nicht erst in 30 Jahren, sondern sofort.

Ähnlich liegen die Dinge auch in Graz, während Linz, Salzburg und Innsbruck ihre Bevölkerungsstände gerade noch aus eigener biologischer Grundlage heraus halten können. Der Zuwachs geht aber- auch dort fast ausschließlich auf Konto ausgedehnter Wanderungsbewegungen, und da sich in diesen Städten, namentlich in dem industriell mächtig aufstrebenden Linz, auch die absolute Bevölkerungsziffer rasch und andauernd vergrößert, übertrifft die Wohnungsnot dort sogar die schon reichlich tristen Wiener Verhältnisse noch um ein beträchtliches.

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