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Wohnkaserne oder Eigenheim?

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Das „Katholische Institut für kirchliche Sozialforschung“ übt in seinem Bericht Nr. 10 eine eingehende und umfangreiche Kritik an der derzeitigen Wiener Stadtplanung, die in Fachkreisi bereits lebhaftes Aufsehen erregt hat. Indessen geht dieser Bericht weit über die bloße Kritik hinaus; er stellt nämlich nicht nur eine genaue Untersuchung aller dringenden Wiener Wohnungs-, Siedlungs- und Stadtplanungsprobleme und ihrer bisherigen Behandlung an, sondern entwickelt überdies aus den Folgerungen dieser Untersuchung ein entschiedenes und keineswegs utopisches Konzept einer neuen Stadt- und Wohnbauplanung, das viele selbstverständliche familienpolitische Forderungen — wie sie vielfach auch in unserem Blatt geäußert wurden — mit den Erkenntnissen moderner Urbanisten in Einklang bringt. Wir meinen, daß eine solch klare und ausführliche Meinungsäußerung von christlicher Seite bisher nicht vorgelegen hat und versprechen uns von ihr eine entscheidende Wendung in den vielen Diskussionen, die über die zitierten Probleme geführt werden. Im folgenden bringen wir aus diesem Bericht einen Auszug. Der Bericht bemängelt zunächst* daß die Wiener Stadtplanung bisher zahlreiche soziologische, künstlerische und ändere Voraussetzungen bei der Aufstellung ihrer Projekte außer acht gelassen hat, zeigt, an Fland eines ausführlichen statistischen Materials viele Fehlerquellen in den offiziellen Schätzungen des Wohnraumbedarfs auf, weist auf den unleidlichen Zustand hin, daß rund 70 Prozent der Wiener Wohnungen Kleinwohnungen sind, und führt dann weiter aus:

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Das „Katholische Institut für kirchliche Sozialforschung“ übt in seinem Bericht Nr. 10 eine eingehende und umfangreiche Kritik an der derzeitigen Wiener Stadtplanung, die in Fachkreisi bereits lebhaftes Aufsehen erregt hat. Indessen geht dieser Bericht weit über die bloße Kritik hinaus; er stellt nämlich nicht nur eine genaue Untersuchung aller dringenden Wiener Wohnungs-, Siedlungs- und Stadtplanungsprobleme und ihrer bisherigen Behandlung an, sondern entwickelt überdies aus den Folgerungen dieser Untersuchung ein entschiedenes und keineswegs utopisches Konzept einer neuen Stadt- und Wohnbauplanung, das viele selbstverständliche familienpolitische Forderungen — wie sie vielfach auch in unserem Blatt geäußert wurden — mit den Erkenntnissen moderner Urbanisten in Einklang bringt. Wir meinen, daß eine solch klare und ausführliche Meinungsäußerung von christlicher Seite bisher nicht vorgelegen hat und versprechen uns von ihr eine entscheidende Wendung in den vielen Diskussionen, die über die zitierten Probleme geführt werden. Im folgenden bringen wir aus diesem Bericht einen Auszug. Der Bericht bemängelt zunächst* daß die Wiener Stadtplanung bisher zahlreiche soziologische, künstlerische und ändere Voraussetzungen bei der Aufstellung ihrer Projekte außer acht gelassen hat, zeigt, an Fland eines ausführlichen statistischen Materials viele Fehlerquellen in den offiziellen Schätzungen des Wohnraumbedarfs auf, weist auf den unleidlichen Zustand hin, daß rund 70 Prozent der Wiener Wohnungen Kleinwohnungen sind, und führt dann weiter aus:

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Die neuesten Wöhhungsbedarfberechnungen und so auch“ das Wohnbauprogramm .der Gemeinde Wien gehen in ihren Annahmen von falschen soziologischen Voraussetzungen aus; es wird nämlich gewöhnlich allein die gegenwärtige Nachfrage der ■ Wohnungswerber in Betracht gezogen, der rechte Bedarf aber nicht berücksichtigt. Das natürliche Verlangen nach, Wohnraum und der für die. physische, psychische und soziale Gesunderhaltung unbedingt notwendige Wohnbedarf sieht anders aus als die bescheidenen Ansprüche, welche die unter der dauernden Wohnungsnot resignierende Stadtbevölkerung zu stellen wagt.

Ein Beispiel: In Wien beträgt die Zahl der Kleinkinder bis fünf Jahre 4,8 Prozent der gesamten Bevölkerung, In der 1951 vollendeten, in vieler Hinsicht musterhaften Per-Albin-Hansson-Siedlung aber stieg, nach einem Zeitungsbericht, die Geburtenzahl sprunghaft auf. . dtas ■• Zweieinhalbfache! Bei einem Besuch der Siedlung fällt auch in der Tat sofort die Menge der spielenden Kinder auf; dagegen erscheinen andere Stadtteile fast als ausgestorben.

Im allgemeinen sind die Wohnungen in Wien viel zu klein; das zeigt schon ein Vergleich mit den Verhältnissen in den Ländern Nord- und Westeuropas, deren Wohnkultur weit höher als unsere ist. Die im „sozialen Wohnbau“ nicht nur in Wien übliche Kleinwohnung -von weniger als 50 Quadratmeter Wohnfläche ist in der Tat ausgesprochen familienfeindlich; denn solche „Geburten-kontr.oliwohnungen“ bieten in keiner Hinsicht Raum für mehrere Kinder. Um hier einen Vergleich aus der Tierpsychologie zu bringen: Man unterscheidet dort bei den Tieren Nester und Lager verschiedener Art: Rastplätze, Heime zweiter Ordnung, in denen das Tier noch unter gewissen Vorsichtsmaßregeln ruht, und Heime erster Ordnung, in denen es sich ganz sicher und bequem fühlt und die Brut aufzieht. In der Kleinwohnung gibt es keinen Spielraum, keinen Werkplatz, getrennte Schlafzimmer für Eltern und Kinder sind nicht vorgesehen; bei gesunden Familien mit vier und fünf oder mehr Kindern reicht der Platz für die Schlafstellen nicht aus, die Wohnzimmer sind nicht groß genug, um die ganze Familie auf einmal zu fassen; sie sind in jeder Hinsicht zu eng. Die Kleinwohnung ist also für die Familie kein „Heim erster Ordnung“.

| Was die „W o h n h ä u s e r“ betrifft, so weist die Stadtplanung mit Vorliebe auf ihre städtebaulichen Vorteile, etwa auf das „Zusammenfassen großer Baugruppen zu einheitlicher Komposition“ hin. Seit 1945 aber geht den Wiener Gemeindebauten die architektonisch, wertvolle Wirkung weitgehend ab. Auf tiefer liegende Probleme wird gar nicht eingegangen.

Bezüglich des Wohnens ist aber von soziologischer Seite noch manches zu erwähnen. So ist es eine Tatsache, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen zu ebener Erde woh1 nen will! Sie wird durch vielerlei Momente erwiesen: Durch Drang nach Siedlungen oder wenigstens Schrebergärten in den Stadtgebieten, durch den Flachbau auf dem Lande. In den- USA wurde' diese These durch umfangreiche Meinungsforschung bestätigt.

Diesem Wunsche entspricht weitgehend der zweigeschossige (Parterre und erstes Stockwerk) sogenannte „Flachbau“ mit zusammenhängenden Hausgärten, wie er seit alters-her die allgemein übliche „halboffene Bauweise“ in den europäischen Städten bildete, der jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die vielgeschossige Schachbrettver-bauung in den wachsenden Städten abgelöst wurde, ohne daß dazu wirtschaftlich und technisch irgendeine Notwendigkeit bestanden hätte. Dazu einige kurze Ueberlegungen:

Der Raumbedarf für den Flachbau ist nicht wesentlich höher als der für den üblichen „geschlossenen“ Hochhausbau. Denn bei Lichteinfallswinkeln von 45 Grad für

alle Fenster beträgt bei zweistöckigen Häusern die Straßenbreite rund sieben Meter, dazu braucht man in diesen „Wohnstraßen“ hur wenige Kreuzungen. Bei hohen Häusern und Schachbrettverbauung sind Straßenbreifen bis über 20 Meter üblich, die Verkehrsfläche nimmt 50 bis 60 Prozent der Gesamtfläche ein!

Auch die Baukosten für den Flachbau sind kein Hindernis. Denn die Kostenverminderung, die beim Hochbau dadurch entsteht, daß gemeinsames Dach und gemeinsamer Keller für alle Stockwerke sind, wird vom dritten Geschoß an durch die Mehrkosten von Fundament und Mauerverstärkung (bei gleichen Wohnflächen) aufgewogen. Dazu kommt noch, daß jeder Materialtransport in vertikaler Richtung unwirtschaftlicher ist als in horizontaler. Durch Verkürzung der Straßenfront, kürzere Leitungen, geringere Straßenkosten usw. kann die Flachbauwoh-ming wirtschaftlich ohne weiteres mit der Stockwohnung im Hochhaus konkurrieren. Untersuchungen aus der Baupraxis zeigen, daß das rationell gestaltete Einfamilienhaus die billigste Bautype ist.

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