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Der unterirdische Bauraum im Wiederaufbau von Wien

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Es ist eine allgemeine und im Hinblick auf die durchschnittliche Lebensweise der Menschen auch durchaus verständliche Einseitigkeit, bei der Betrachtung und Wer-’ tung einer Stadt- als Baukomplex nur deren frei sichtbaren oberirdischen Teil zu erfassen. Der unterirdische Bau raum entzieht sich in der Regel nicht nur dem Blick des technisch Ungeschulten, sondern zuweilen auch dem des Hochbautechnikers und Baukünstlers, der mit Wiederaufbauarbeiten in ganz oder teilweise zerstörten Stadtteilen befaßt ist. Es erscheint daher angebracht, aufzuzeigen, daß die unter de.- Erde liegende und zum Teil bis in Ge’ändehöhe reichende Baumasse einer Großstadt keineswegs gering einzuschätzen ist. Sie wird einerseits durch die mannigfachen Tiefbauanlagen (Straßenkörper, Brüchen, Abwasserkanäle, Leitungen zur Versorgung mit Wasser, Gas und elektrischer Energie sowie zur Nachrichtenübermittlung, Gleisanlagen der städtischen Verkehrsbetriebe und der Bundesbahnen, GerinnereguHerungs- und Verkehrswasserbauwerke), andererseits durch die Keller und Grund werke der Wohnhäuser, Industriebauten und öffentliche Gebäude gebildet.

Für Wien ist der Wert aller vorerwähnten Tiefbauten mit 13.667 Millionen Schilling, derjenige der Grundbauten aller Hochbauwerke mit 14 278 Millionen Schilling und somit der Anlagewert aller unterirdischen Bauobjekte mit 27 943 Millionen Schilling einzuschätzen. Im Vergleich mit dem Wert der Bumasse über der Erde, der mit 64.319 Millionen Schilling anzunehmen ist, entspricht dies 4 3,5 Prozent; bezogen auf den Gesamtwert aller Bauanlagen der Stadt im Betrage von 92.262 Millionen Schilling stellt sich der „unter Tag“ liegende Bauwert Wiens mit 3 0,3 Prozent dar. In den vorstehenden Wertangaben sind naturgemäß die Innen- einrichtungs- und die Baugrundwerte nicht enthalten. Die obigen Wertsummen sind als Neuanschaffunzswerte gemäß der Marktlage am 1. Oktober 1947 aufzufassen.

Die zeitgemäße Bedeutung der vorangeführten beachtenswerten Verhältniszahlen wird noch durch die Gegenüberstellung der Werte unterstrichen, die zur Behebung der durch den zweiten Weltkrieg an den unter- und oberirdischen Bauanlagen dieser Stadt verursachten Schäden aufgewendet werden müssen und zum Teil bereits verausgabt sind. Während die unterirdische Baumasse mit einem Instandsetzungsaufwand von 1938 Millionen Schilling nur zu 7 Prozen t geschädigt wurde, ist das oberirdische Wien gemäß einer Wiederaufbausumme von 14.529 Millionen Schilling im Ausmaß von 23 Prozent zu Schaden gekommen. Der ganze Bauschaden Wiens kann mit 1 6.4 67 Millionen Schilling, entsprechend 18 Prozent seines Gesamtneubauwertes, eingeschätzt werden.

Aus der vorangehenden Betrachtung lassen sich die nachstehenden städtebaulichen Folgerungen ziehen.

Beim Wiederaufbau eines Stadtteils sind radikale Losungen nach Möglichkeit zu vermeiden.

Diese Forderung ist ein Gebot der Wirtschaftlichkeit, denn der Ersatz bestehender Straßen durch neue Verkehrsadern bedeutet den Verzicht auf nichtzerstörte unterirdische Anlagen in einem Ausmaß, da einer Verteuerung des Wiederaufbaus auf das Eineinhalb- bis Zweifache entspricht. Es sollte demnach im allgemeinen das bestehende Verkehrsnetz das unverrückbare Gerippe für jeden städtebaulichen Wiederaufbauplan sein. Insbesondere empfiehlt sich die Befolgung dieser Regel im Stadtkern, in Wien daher vor allem im ersten Bezirk. Dort wird sich der Städtebauer in den meisten Fällen mit der örtlichen Regulierung der Straßenprofile und der Verbesserung verkehrstechnisch ungünstiger oder gefährlicher Lageverhältnisse begnügen müssen Im allgemeinen kommt in diesem Stadtteil die Neuerrichtung zerstörter Häuser auf ihren alten Grundwerken in Betracht. Zwingende volksgesundheitliche Notwendigkeiten können fallweise Ausnahmen von dieser Regel begründen. Grundlegende Änderungen des Altbestandes verbieten sich dort, abgesehen von wirtschaftlichen Überlegungen, häufig auch mit Rücksicht auf die kulturelle Notwendigkeit, das Gepräge der Altstadt zu bewahren. In Stadtteilen, wo solche Erwägungen weniger ins Gewicht fallen, wird sich im Interesse verbesserter Wohnverhältnisse der Neubau zerstörter Häuser häufig auf neuen Grundwerken, jedoch unter wesentlicher Aufrechterhaltung des bestehenden Straßensystems empfehlen. Man muß diesfalls allerdings mit einer Steigerung der Wiederaufbaukosten auf etwa das Eineinviertelfache rechnen.

In einzelnen Bereichen des Stadtgebietes können die Bedürfnisse des öffentlichen Verkehrs und einer volkswirtschaftlich günstigen Neugestaltung der Stadt von so überragender Bedeutung sein, daß unter Hintansetzung bauwirtschaftlicher Rücksichten das alte System der Verkehrsadern ganz oder teilweise verlassen werden muß. Ein Beispiel für diesen Ausnahmefall stellt der Wiederaufbau • des 2. und 20. Bezirkes dar. Der am Rande dieses Stadtteils liegende alte Stromhafen am Donaukai ist verkehretechnisch aus mehr als einem Grunde ungünstig und in seinen Anlagen durch Kriegshandlungen mehr als zur Hälfte zerstört worden. Es liegt daher nahe, den Wiederaufbau der Hafenobjekte nicht mehr an der alten Stelle, sondern in einem günstiger liegenden Binnenhafen zu bewerkstelligen. Als Herz eines solchen ist, zumindest vom Standpunkte des Stückgut-

verkehre aus, der in einen Umschlagplatz umzugestalteride Freudenauer Hafen anzusehen. Als sinngemäße Folge der Verlagerung des Hafens ergibt sich die Freimachung des rechten Donauufers von der Florids- dorfer Brücke bis zur Ostbahnbrücke von allen Umschlags-, Speicher- und Bahnanlagen und dessen Ausgestaltung zu einem landschaftlich und baukünstlerisch eindrucksvollen wasserseitigen Abschluß eines neuen Wohn- und Gartenviertels, das aus der bisher baulich vernachlässigten, mit schweren Kriegsschäden behafteten „Praterinsel“ werden kann und soll.

Eine Lehre, die sich aus den oben dargelegten Verhältnis werten der Kriegsschäden ziehen läßt, ist die Zweckmäßigkeit der Vergrößerung dek unterirdischen Baumasse von Hochbauten zuungunsten der oberirdischen im Vergleich zur bisher üblichen Massenverteilung überall dort, wo dies möglich erscheint. Dieser Empfehlung wird bei solchen Neubauten entsprochen werden können, in denen größere Lagerräume unterzubringen sind, die das Tageslicht entbehren können. Naturgemäß kommen Häuser mit vergrößertem Tiefgeschoß nur in Stadtteilen mit genügend tiefliegendem Grundwasserspiegel in Betracht, daher zum Beispiel nicht im Alluvialgebiet der Donau. Vorläufer der gegenständlichen Bauart sind in Wien aus der älteren Baugeschichte der Inneren Stadt mehrfach bekannt geworden. Bis etwa zur Mitte des vorigen Jahrhunderts war die unterirdische .Ausdehnung der Wiener Häuser in mehrere Stockwerke tiefen Kellern häufig der oberirdischen gleich, wenn nicht überlegen — eine Erscheinung, die in der Unsicherheit der damaligen Zeiten begründet ist und nach unserem jüngsten Kriegserleben auch in der Jetztzeit wieder Beachtung verdient.

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