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Eine Großmacht ringt mit der Wohnungsnot

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In Großbritannien ist ebenso wie in Österreich die Wohnungsfrage eine der brennendsten Angelegenheiten des Tages, die überdies den Gegenstand weitgehender politischer Auseinandersetzungen bildet. Vor kurzem wurde festgestellt, daß in Österreich die Errichtung von 200.000 Wohnungen erforderlich sei; der Bedarf Englands ist so groß, daß das Wohnbauprogramm der britischen Regierung allein für 1951 und 1952 den Bau von durchschnittlich 200.000 Häusern jährlich vorsieht. Selbst dies ist zugegebenermaßen unzureichend, denn trotz der eifrigen Bemühungen, die seit Ende des Krieges unternommen wurden — im März 1945 wurde die Zahl der erforderlichen Häuser auf 1,250.000 geschätzt —. ist die Wohnungsnot noch immer sehr groß.

Man muß wissen, daß der Engländer unter „Wohnung“ gewöhnlich ein Einfamilienhaus versteht. Ausländischen Besuchern fällt sofort auf, daß in England — im Gegensatz zu den auf dem Kontinent mehr üblichen Häuserblocks mit Stockwerkswohnungen — Kleinhäuser überwiegen. Aus nach dem Kriege durchgeführten Erhebungen geht hervor, daß 75 Prozent aller Familien in Großbritannien in Reihen- oder Doppelhäusern leben und die restlichen 25 Prozent 6ich fast gleichmäßig auf freistehende Häuser und Etagenwohnungen verteilen. Nur in London — und zwar hauptsächlich in den inneren Bezirken — lebt ein ziemlich hoher Prozentsatz von Familien (ungefähr 17 Prozent) in Etagenwohnungen. Der Durchschnittshaushalt In Großbritannien umfaßt etwas mehr als dreieinhalb Personen. Von den insgesamt 13 bis 13,5 Millionen Haushalten — inbegriffen auch die Einpersonhaushalte — besteht von je vier einer aus drei Personen, von je sechs einer nur aus einem Ehepaar.

Solange als die Aussichten, ein eigenes Heim zu gründen, schlecht sind, würde es nicht wundernehmen, wenn die jungen Leute vor dem Heiraten zurückscheuten. Auf einer kürzlich abgehaltenen Konferenz des Nationalen Frauenausschusses erklärte eine Delegierte aus Schottland, in Glasgow sei die Vormerkliste für Wohnungen so lang, daß ein junger Ehemann, der sich sofort bei seiner Eheschließung eintragen würde, 25 Jahre lang auf eine Wohnung warten müßte. Trotzdem kann man nicht behaupten, daß in den Eheschließungs- und Geburtenziffern ein allgemeiner Rückgang eingetreten sei. 1949 betrug die Zahl der Eheschließungen in England und Wales 373.000; als Vergleich diene der Durchschnitt für die vier Jahre 1935 bis 1938 in der Höhe von 356.000. Die Geburtenzahl im Jahre 1949 belief sich auf 731.000, der Durchschnitt 1935 bis 1938 betrug 609.000. Selbstverständlich verschärfen diese Erhöhungen das Wohnungsproblem nicht unerheblich.

Die Wohnungsnot ist auch in England an sich kein neues Problem. Das rasche Anwachsen der großen Industrien im 18. und 19. Jahrhundert führte zu einer ungeheuren Zunahme der städtichen Bevölkerung, für die Wohnraum durch eine eilige und planlose Errichtung zahlreicher Arbeiterwohnhäuser geschaffen wurde, die sich aber gewöhnlich infolge unzureichender Berücksichtigung der hygienischen Erfordernisse sehr bald als menschliche Behausungen ungeeignet erwiesen.

Das Erwachen des öffentlichen Gewissens im Laufe des 19. Jahrhunderts führte zu einer sozialen Wohnungsgesetzgebung, der es aber bis heute doch nicht gelang, im Wohnbauwesen eine der dringendsten Sorgen der britischen Regierung und des britischen Volkes zu beheben.

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