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Reiche und arme Vettern in Österreich

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Überquert man die Enns in Richtung von Ost nach West, überquert man 1969 mehr denn je eine erkennbare Grenze zwischen zwei Regionen Österreichs. Ost und West entwickeln sich in steigendem Maße auseinander. Und das ist nicht allein an Hausfassaden, Blumenschmuck und Werbetafeln sichtbar. Zur Wirtschaftsgeographie tritt die Psychologie. Zwei Typen von Osterreich, die langsam verschieden werden, treten uns entgegen.

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Überquert man die Enns in Richtung von Ost nach West, überquert man 1969 mehr denn je eine erkennbare Grenze zwischen zwei Regionen Österreichs. Ost und West entwickeln sich in steigendem Maße auseinander. Und das ist nicht allein an Hausfassaden, Blumenschmuck und Werbetafeln sichtbar. Zur Wirtschaftsgeographie tritt die Psychologie. Zwei Typen von Osterreich, die langsam verschieden werden, treten uns entgegen.

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Österreichs Regionalgliederung im Jahre 1969 orientiert sich an der ■wechselvollen Geschichte Mitteleuropas. War der ostösterreichische Zentralraum in der Monarchie mit seinem Schwerpunkt Wien Kern eines 52-Millionen-Reiches, so mußten sich Wirtschaft und Kultur im Jahr 1918 auf einen 7-Millionen-, Markt von Konsumenten reduzieren. 1938 rutschte die Wirtschaft Österreichs zwar in eine Randlage eines neuen wirtschaftlichen Großraums, konnte sich aber immerhin wieder an einem größeren Markt orientieren.

1945 wurde das ganze Land durch das Besatzungsregime in Kleinsträume zerpreßt und vor allem in der russischen Zone Österreichs ausgehungert. Erst nach dem Staatsvertrag und den Anstrengungen Österreichs, im Rahmen der entstehenden Zoll- und Wirtschaftsunionen Europas handelspolitisch Fuß zu fassen, brachte unsere Volkswirtschaft und damit auch unsere Kontaktströme mit der Welt ins Fließen. 1961 stellte die niederösterreichische Handelskammer erschreckt fest, daß die Ergebnisse der Volkszählung für das größte Bundesland Österreichs katastrophal waren. Nun finden in Österreich Volkszählungen nur alle zehn Jahre statt und der bereits 1961 festgestellte Nachteil, den Niederösterreich gegenüber den westlichen Bundesländern hatte, wurde seither noch mehr verstärkt. Zwischen 1951 und 1961 war in Niederösterreich eine Stadt von der Größe Klosterneuburgs mit 23.000 Einwohnern gewissermaßen verschwunden. Noch grotesker ist dieser Menschenverlust, wenn man die Bevölkerung des Landes mit der Situation zu Ende des 19. Jahrhunderts vergleicht:

Von 1869 bis heute vermehrten sich die Einwohner in den westlichen Bundesländern um 69 Prozent — in Niederösterreich nur um 29 Prozent. Ziemlich ähnlich ist die bevölkerungspolitische Situation in Wien. Zählte die Reichshaupt- und Residenzstadt zur Zeit der Schüsse von Sarajewo 2,1 Millionen Menschen, sank diese Zahl in 50 Jahren auf 1,6 Millionen; in Wien werden derzeit etwa doppelt so viele Menschen alljährlich begraben wie geboren; zwischen den beiden letzten VolksZählungen fiel der Anteil der Schulkinder an Wiens Bevölkerung von 10 auf 7 Prozent; der Anteil der über 65jährigen stieg dagegen auf 16 Prozent. Daß Wiens Bevölkerung aber in Zukunft nicht ins Uferlose eines Greisenasyls absinken wird, verdankt es der Zuwanderung der Niederösterreicher in die Bundeshauptstadt.

Das Institut für Raumplanung stellte fest, daß allein zwischen 1951 und 1961 rund 130.000 Niederösterreicher nach Wien zogen und daß seither jährlich neuerlich rund 1 Prozent der Bevölkerung Niederösterreich in Richtung Wien verläßt.

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