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Stagnation im Osten

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Ende 1972 betrug das Bruttonationalprodukt der österreichischen Wirtschaft rund 465 Milliarden Schilling. Davon wurden etwa 30 Prozent in Wien, insgesamt weitere 45 Prozent in den großflächigen Bundesländern Niederösterreich und Oberösterreich sowie der Steiermark erwirtschaftet. Die Anteile Tirols, Kärntens und Salzburgs lagen zwischen 6 und 7 Prozent; 4 Prozent lieferte Vorarlberg und 2 Prozent trug das Burgenland zum Bruttonationalprodukt bei.

Diese großen regionalen Unterschiede im Inlandsprodukt beruhen vor allem auf der ungleichen Bevöl-kerungs- und Erwerbstätigenzahl, aber auch auf einer recht unterschiedlichen wirtschaftlichen Dynamik in den einzelnen Bundesländern. Ungleich klarer wird die wirtschaftliche Position der Bundesländer, wenn man die vom Wirtschaftsforschungsinstitut errechnete Kopfquote zu einem Vergleich heranzieht. Legt man den österreichischen Durchschnitt mit 100 Prozent fest, so haben Wien mit 132,9, Vorarlberg (112,5) und Salzburg mit 105,1 überdurchschnittliche Kopfquoten. Dann kommt eine Mittelgruppe mit Tirol (93,2), Oberösterreich (93,1) und Niederösterreich (89,5). Mit einigem Abstand folgen Kärnten und die Steiermark mit 85,3 bzw. 80,9 und schließlich als Nachzügler das Burgenland mit einer Kopfquote von 71,7. Vergleicht man ferner diese Kopfquoten des Jahres 1970 mit denen des Jahres 1964, so wird man erkennen müssen, daß die wirtschaftliche Entwicklung Wiens nahezu stagnierte, Vorarlbergs Position im österreichischen Wirtschaftsraum eine Schwächung erfuhr (von 119,3 im Jahre 1964 auf 112,5 Ende 1970), sich die Positionen Salzburgs, Tirols Oberösterreichs, Kärntens und des Burgenlands stark verbesserten und auch die wirtschaftliche Stellung von Niederösterreich und der Steiermark leichte Einbußen hinnehmen mußte. Ohne Land- und Forstwirtschaft erreichte das Brutto-Inlands-produkt Wiens in der Zeit zwischen 1964 und 1970 die allergeringste, die von Burgenland, Salzburg und Tirol dagegen die stärkste Zunahme.

Was den angeblichen Wirtschaftsund Wachstumspol Wien betrifft, so ist festzustellen, daß die Wiener Wirtschaft sowohl im innerösterreichischen als auch im internationalen Vergleich mit ähnlich strukturierten Groß- bzw. Hauptstädten sehr schlecht abschneidet.

Auch der Beitrag Wiens zum österreichischen Bruttonationalprodukt stagniert bzw. sinkt. 1964 hatte Wien noch einen Anteil von fast 33 Prozent, heute liegt dieser Anteil bei 30 Prozent. Das österreichische Bruttonationalprodukt hatte in den Jahren von 1964 bis 1970 eine durchschnittliche jährliche (nominelle) Wachstumsrate von 7,7 Prozent, die jährliche Zuwachsrate des Wiener Bruttonationalprodukts betrug dagegen nur 6,6 Prozent. Dagegen stiegen die Bruttoausgaben der öffentlichen Hand in Wien überproportional: Zwischen 1956 und 1972 von 3,7 auf 20,5 Milliarden Schilling oder um rund 454 Prozent, wohingegen die Bruttoausgaben des gesamten öffentlichen Sektors in Österreich zwischen 1956 und 1972 von 56,9 auf 268,1 Milliarden Schilling oder um nur 371 Prozent stiegen.

Die wichtigsten Daten für einen Vergleich der wirtschaftlichen Positionen der Bundesländer im nationalen Wirtschaftsraum zeigen, daß — sieht man von der besonderen Dynamik Salzburgs im westlichen Bereich und der augenfälligen wirtschaftlichen Stagnation Wiens im Osten Österreichs ab — eine generelle „Westlastigkeit“ in der heimischen Wirtschaft nicht mehr gegeben ist. Das wirtschaftliche Niveau in Österreich hebt sich insgesamt und rasch, wobei einerseits Burgenland und Kärnten am raschesten aufholen und anderseits die einst doch bedeutenden Vorsprünge von Wien und Vorarlberg langsam nivelliert werden. Insbesondere was Vorarlberg betrifft, mag das erstaunen. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, daß in den letzten Jahren die Textilwirt-schaft ein wenig an Bedeutung und Dynamik eingebüßt hat — eine Branche, die gerade in Vorarlberg überrepräsentiert ist. Die Stagnation des Wachstums-Schlußlichtes Wiens dürfte vor allem auf die Uberalterung des erwerbstätigen Personals, den Rückgang der Beschäftigtenzahl, die zahlreichen Betriebsverlegungen nach Niederösterreich und dem Burgenland und eine fehlende Wirtschaftsgesinnung im Wiener Magistrat zurückzuführen sein.

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