6982683-1986_15_15.jpg
Digital In Arbeit

Entscheid für ein Gulasch mit Saft

Werbung
Werbung
Werbung

In Anspielung an den Slogan „Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft“ kann man die Entscheidung der Niederösterreicher vom 1. und 2. März als „saftige“ Überraschung werten: Von rund 1,2 Millionen Stimmberechtigten nahmen über 61 Prozent an der Abstimmung teil. Davon votierten 56 Prozent für die Schaffung einer eigenen Landeshauptstadt. Von den Ja-Stimmen entfielen auf die einzelnen Städte, die als mögliche Standorte vorgegeben waren, 45 Prozent für St. Pölten, 29 Prozent für Krems, 8 Prozent für Baden, 8 Prozent für Tulln und 4 Prozent für Wiener Neustadt.

Dieses Ergebnis wird ohne Zweifel dafür sorgen, auch mehr Saft in die regionalpolitische Auseinandersetzung in Nieder-

Österreich zu bringen. Die Schaffung einer eigenen Landeshauptstadt soll ja Hand in Hand mit einer verstärkten Aufwertung der einzelnen Regionen und einer konsequenten Dezentralisierungspolitik gehen. Der scheinbare Gegensatz zwischen der neuen Landeszentrale und dezentralen-Entwicklungsstrategien wird dafür sorgen, daß in dem in Gang gekommenen Prozeß der stärkeren Besinnung auf Werte wie Eigenständigkeit und Selbsthilfe der Saft auch weiterhin nicht ausgeht.

Die Ergebnisse der Abstimmung sowie der vorausgegangenen Umfrage zeigen, daß sich Niederösterreich in einem Emanzipationsprozeß befindet, der vor geraumer Zeit einsetzte und sicher weiter anhalten wird.

Bei einer Umfrage im Jahre 1974 stellte sich heraus, daß lediglich ein Fünftel der Niederösterreicher für eine eigene Landeshauptstadt war. Dem überwiegenden Teil war die Frage gleichgültig. 1982 zeigte sich, daß offensichtlich wie bei vielen Themenbereichen ein deutlicher Wandel eingetreten sein mußte.

Der Ja-Stimmen-Mehrheit von 56 Prozent steht ein Anteil der Verwaltungsbezirke und Statu-tarstädte mit einer Mehrheit der Pro-Stimmen von 60 Prozent und ein Anteil der Gemeinden mit überwiegend Ja-Stimmen von 64 Prozent gegenüber, die Zahl der Gemeinden mit einer Mehrheit an Befürwortern der Landeshauptstadt reicht also knapp an zwei Drittel heran.

Unter den Verwaltungsbezirken und Statutarstädten rangieren St. Pölten und Krems mit ihren Umlandbezirken naturgemäß an der Spitze. Uberraschend weit vorne reihten sich die meisten Grenzlandbezirke ein: Zwettl mit 89 Prozent, Horn mit 71 Prozent, Waidhofen an der Thaya mit 66 Prozent und Hollabrunn mit 61 Prozent Ja-Stimmen.

Besonders fällt auf, daß es in nicht weniger als vier Verwaltungsbezirken in keiner einzigen Gemeinde eine Mehrheit der Nein-Stimmen gab: in Horn, Krems-Land, St. Pölten-Land und Zwettl. Der wiennahe Verwaltungsbezirk Korneuburg erreichte trotz einer Mehrheit der Nein-Stimmen dennoch eine Mehrheit der Gemeinden, in denen die Ja-Stimmen überwiegen. Diese wurde selbst im Verwaltungsbezirk Wiener Neustadt nur knapp verfehlt.

Interpretiert man die „Neinstimmen als Votum für die Beibehaltung des Sitzes der Zentralstellen in Wien und folgt man dem unrichtigen Argument mancher Kritiker, wonach die Ja-Stimmen nur für eine Hauptstadt in der jeweils vom Abstimmenden bezeichneten Stadt zu werten seien, stellt sich dennoch heraus, daß der Raum St. Pölten — Krems mehr Zustimmung fand als der Standort Wien. Für St. Pölten und Krems sowie für eine Hauptstadt ohne Angabe einer Standortpräferenz votierten 46 Prozent der Abstimmungsteilnehmer, für Nein und damit indirekt für Wien aber nur 44 Prozent.

St. Pölten und Krems konnten überdies in den beiden östlichen Landesvierteln (ohne Verwaltungsbezirk Tulln) mit rund einem Viertel der auf sie entfallenen Stimmen einen höheren Zustimmungsanteil verbuchen als die „Status-quo-Lösung“ in den westlichen Landesvierteln.

Der regionale Einfluß auf das Abstimmungsergebnis war zwar eindeutig stärker als die durch die Parteien angegebenen Marschrichtungen, doch auch letztere schlugen sich im Resultat deutlich nieder. Sieht man von extremen „Ausreißern“ wie St. Pölten-Stadt, St. Pölten-Land, Krems-Stadt, Lilienfeld und Mistelbach ab, läßt sich ein Zusammenhang etwa zwischen dem Anteil der SP-Stimmen bei der letzten Landtagswahl und dem Nein-Stimmenanteil bei der Landeshauptstadtabstimmung nicht übersehen. Im allgemeinen gilt: Je höher der SP-Stimmenanteil, desto höher der Anteil der Nein-Stimmen.

Noch deutlicher zeigt sich der Parteieneinfluß auf das Abstimmungsergebnis bei einer gemeindeweisen Betrachtung. Unter den 50 Gemeinden mit den meisten Nein-Stimmen hatten 49 Prozent bei der letzten Landtagswahl eine sozialistische Mehrheit. Umgekehrt befindet sich unter den 50 Gemeinden mit dem geringsten Nein-Stimmenanteil mit St. Pölten nur eine einzige sozialistisch regierte Gemeinde.

Doch auch bei diesen beiden Gemeindekategorien schlug der regionale Effekt deutlich durch. So gehören den 50 Gemeinden mit dem höchsten Nein-Stimmenanteil nur drei aus den beiden westlichen, gehört den 50 Gemeinden mit dem geringsten Nein-Stimmenanteil keine einzige Gemeinde aus dem östlichen Niederösterreich an.

Zu den eindrucksvollsten Ergebnissen dieses Urnenganges zählt die relativ hohe Wahlbeteiligung. Sie übertraf nicht nur die meisten Erwartungen, sondern auch die Teilnahmequoten bei , ähnlichen in- und ausländischen Plebisziten.

Obwohl die Teilnahmequote mit 61,4 Prozent sehr beeindruk-kend ausfiel, spiegelt diese Ziffer das tatsächliche Ausmaß der Beteiligung nur verzerrt wider. Wie ein Vergleich zwischen der Landtagswahl und der Nationalratswahl des Jahres 1983 zeigt, lag die Zahl der Wahlberechtigten in Niederösterreich beim erstgenannten Wahlgang um 11,2 Prozent höher als bei der im selben Jahr vorausgegangenen Bundeswahl. Dieser Unterschied kam dadurch zustande, daß viele Wiener mit einem Zweitwohnsitz in Niederösterreich zwar bei der Landes-, nicht aber bei der Bundeswahl stimmberechtigt waren.

Die „Zweitwohnsitzwähler“ wären natürlich auch beim Urnengang am 1. und 2. März stimmberechtigt gewesen, ein erheblicher Teil dieses Wählerpotentials erschien aber nicht in den Abstimmungslokalen.

Daher war die Wahlbeteiligung in den einzelnen Verwaltungsbezirken umso niedriger, je höher. dort der Anteil an „Zweitwohnsitzwählern“ ist.

Die Verwaltungsbezirke Wien-Umgebung und Mödling beispielsweise mit einem besonders hohen Anteil an Zweitwohnungen erreichten in der Abstimmungsbeteiligung nur wenig mehr als 50 Prozent. Umgekehrt lag die Teilnahme im Verwaltungsbezirk Amstetten, wo es nahezu keine „Zweitwohnsitzwähler“ gab, bei nahezu 70 Prozent.

Die Gemeinden mit der geringsten Wahlbeteiligung weisen durchwegs extrem hohe „Zweitwohnsitzwähler-Anteile“ auf wie etwa Eichgraben und Semmering, wo die Zweitwohnsitzer 45 bzw. 49 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen.

Berücksichtigt man diesen Faktor, kommt man zu dem Schluß, daß tatsächlich mehr als zwei Drittel der Niederösterreicher ihre Stimme abgaben.

Der Autor leitet die Abteilungfür Raumordnung der Niederösterreichischen Landesregierung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung