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Hilfsarbeiter nach Wien

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Iii der Zukunft — so nehmen die Statistiker an — wird vor allem im Räume nördlich der Donau eine erschreckende Abnahme der Bevölkerungsdichte erfolgen. Was aber nach Wien kommt und sich hier ständig ansiedelt (unter oft nicht sehr erfreulichen wohnlichen Verhältnissen) stammt nicht aus einem qualifizierten Arbeitskräftepotential, sondern verdingt sich zumeist in allen Formen der billigen Hilfsarbeit. Strömen also Niederösterreich praktisch überhaupt keine neuen Potenzen zu, füllt sich Wien mit ländlichem Proletariat. Gleichzeitig aber wandert aus dem gesamten ostösterreichischen Raum vor allem eine mobile, junge und vielfach auch gebildete Schicht ab. Die Flucht nach dem Westen ist seit 1918 eine durchwegs stabile Erscheinung:

• War es seit 1918 der latente Bürgerkrieg und die besonders in Ostösterreich bedrückende Wirtschaftskrise,

• so war es nach 1945 Russenangst und die Abseitstellung in der sozialen Geographie, in Wirtschaft und sogar Politik.

Zu einem starken finanziellen Engagement der Westmächte in den westlichen Bundesländern kam in den fünfziger Jahren die Kapitalfreudigkeit bundesdeutscher Unternehmer. Entfielen im Durchschnitt auf einen Industriebeschäftigten in den westlichen Bundesländern fast 14.000 Schilling ERP-Kredite, waren es in Niederösterreich nur 10.000 Schilling. Und die ,;Geldgermanisierung“ vor allem Salzburgs und Tirols kurbelte die Wirtschaft in diesen Bundesländern erstaunlich rasch an. Auch die Bauwirtschaft als motorischer Faktor der Konjunktur nahm in Westösterreich einen erstaunlichen Aufschwung. Entfielen in einem Jahr in Niederösterreich auf 1000 Einwohner 3,3 Neubauwohnungen, waren es in den westlichen Bundesländern genau doppelt so viel.

Was aber Westösterreich den dominierenden und entscheidenden Vorsprung verschaffte, war der Anschluß an den internationalen Fremdenverkehr. Zwar koftnte Wien sich gleichfalls gut behaupten, doch schlief das Umland der Bundeshauptstadt weiter den Dornröschenschlaf. Vor allem durch das Entstehen einer zweiten Saison zog Westösterreich tausende neue Wintergäste in die Täler zwischen Bodensee und Dachstein. Und in Westösterreich brachte der Fremdenverkehr vor allem dorthin Wohlstand, wo die Standortvoraussetzungen für Industrie und Handel eher gering waren. Der Fremdenverkehr stellte in Westösterreich überdies das Reservoir dar, in dem die Land- und Höhenflucht mündete. Weshalb es dort auch kaum zu ernsthaften Friktionen des Arbeitsmarktes kam.

Voraussetzung dieses Aufwärtstrends im Fremdenverkehr war der Ausbau des Straßennetzes. Zwar ist in Ostösterreich die Dichte des Straßennetzes als relativ hoch anzusehen — doch muß der Ausbaugrad als schlecht bezeichnet werden. In Niederösterreich sind von den befestigten Straßen (laut Raumplanungsinstitut) 14 bis 18 Prozent staubfrei, in den westlichen Bundesländern aber bis 25 Prozent.

Nur die Autobahn von Wien nach Salzburg hat einen großen Anteil in der Überwindung des Gefälles, was erst nach und nach ernsthaft geschätzt wird. Diese Autobahn hat mehr als vieles andere dazu beigetragen, daß sich West- und Ostösterreich nicht noch fremder wurden, als es die Umstände schon mit sich brachten.

Die Fakten sind nicht mehr übersehbar: Der Ostösterreicher ist zum armen Vetter des Westösterreichers geworden. So ermittelte das Statistische Zentralamt in Österreich auch starke Unterschiede im Volkseinkommen.

Setzt man das Durchschnittseinkommen je Einwohner mit 100 im Bundesdurchschnitt an, so beträgt das Volkseinkommen in Waidhofen und Gmünd 63, in Zwettl sogar nur 46. In Wels hingegen steigt es bereits auf 124, in Innsbruck beträgt es 119, in Salzburg klettert es auf 139. Ähnliches zeigt das Steueraufkommen: In der Einkommensteuer entfallen im Westen auf den Kopf jedes Einwohner 366 Schilling — in Niederösterreich sind es nur 222. Aber auch das Burgenland und die Oststeiermark haben in diesem Zusammenhang die gleichen Sorgen wie das flächengroße Niederösterreich. Der Durchschnittarbeitnehmerlohn liegt in Oberpullendorf um 33 Prozent unter dem Österreich-Durchschnitt, in Hartberg um 29 Prozent.

Der Reichtum kulminiert in den Gebieten ohne Fremdenverkehr nur dort, wo Industrie und Handel Schwerpunkte haben. Agrarische Gebiete hingegen sind in Ostösterreich von den Sorgen einer strukturellen Arbeitslosigkeit und der Pendlerwanderung betroffen. Das gilt für das Weinviertel ebenso wie für das ganze Burgenland, für die Ost- und Südsteiermark. Im Burgenland leben noch immer 34 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft: doppelt so viel wie in anderen Bundesländern. Und trotz intensiver Bemühungen mit Industrieansiedlungen und Verbesserungen der Infrastruktur hat sich der Abstand des Burgenlandes als Schlußlicht Österreichs zum Westen nicht verringert, sondern vergrößert. Und auch jeder weitere investierte Schilling wirft in Westösterreich mehr Gewinn ab als im Osten unseres Landes. Die Schere öffnet sich weiter.

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