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Alpen- und Donauösterreicher

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Diese tiefgreifenden Veränderungen haben schon heute zu einer spürbaren mentalen Differenzierung geführt. Bruno Pittermann sprach nach den Ereignissen von Fussach im Jahre 1965 — wo eine rotweiß-rote Fahne von Vorarlberger Demonstranten beschmutzt wurde — von Donau- und den Alpenösterreichern. Diese beiden Gruppen sollen sich nach Pittermann politisch — aber auch soziologisch und kulturell unterscheiden.

Tatsächlich zeigt sich immer deutlicher, daß mit dem-Wachsen Münchens zur „heimlichen Hauptstadt“ Deutschlands ein vermehrter Strom von Kontakten aus Westösterreich in die Isarstadt läuft. Bereits gegen 100.000 Österreicher sollen in Bayern leben und arbeiten. Denn mit dem Auto ist der Innsbrucker oder Salzbürger auch in zwei Stunden in München, nach Wien aber braucnt man vom Inn gut über fünf Stunden. Und wählt man das Vorarlberger Rheintal als Mittelpunkt eines Zirkelkreises dann liegen Frankfurt, Düsseldorf, Genf, Mailand und selbst Florenz näher zum Ländle als Wien. Und das erklärt auch in der Zeit großer Mobilität und besserer Kommunikation noch immer einiges. Die Verbindung zum süddeutschen Raum hat im zunehmenden Maße auch bereits kulturelle Nebenwirkungen. Münchner Theaterereignisse finden in den Kulturseiten der Tageszeitungen westlicher Bundesländer breiteren Raum als das Geschehen auf Wiener Bühnen. Der Absatz bundesdeutscher Illustrierter ist prozentuell in Westösterreich erheblich stärker als im Osten. Und Gäste aus dem nördlichen Ausland werden in westösterreichischen Fremdenverkehrsbetrieben oft bevorzugter behandelt als Touristen aus Ostösterreich, wie Leserbriefschreiber raunzig an Zeitungen melden.

Die Fernsehprogramme der Bundesrepublik werden in zahlreichen alpinen Haushalten in Grenznähe lieber gesehen als heimische Programme. Das führt so weit, daß auch während der Nachrichtensendungen deutsche Programme eingeschaltet bleiben.

Zwar existieren kaum exakte Angaben, wie viele Ausländer bereits in Westösterreich Grund und Boden besitzen oder über Strohmänner faktische Inhaber sind. In manchen Gegenden Salzburgs sind aber weit über die Hälfte aller Neubauten von Deutschen bewohnt. So steigt auch das Selbstbewußtsein der einst als „Gscherte“ oder „Stier-wascher“ von den Wienern bezeichneten Bewohner Westösterreichs. Und jedes Land fordert unter Hinweis auf die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung einen höheren Anteil an Einfluß im Bund. Seit in der ÖVP ein Proporz bei der Vergabe von Regierungsämtern herrscht, haben die westlichen Bundesländer gegenüber früher stark aufgeholt. Dafür trat auch an die Stelle des Kampfes gegen den „Zentralismus“ ein Kampf gegen die benachbarten Länder. Nicht mehr der „Wasserkopf Wien“ ist das böse Phantom — sondern vor allem die Konkurrenten im Einsatz um mehr Autobahnkilometer, um „neue Kraftwerke, und um neuei Hochschulen.,

Wien hingegen verliert zunehmend auch geistige Potenz an Westösterreich. Junge Hochschulassistenten ziehen westliche Hochschulen vor, Künstler und Schriftsteller zieht der Raum Salzburg magisch an. Ausländische Firmen haben schon seit der Besatzungszeit vielfach ihren Sitz in Westösterreich genommen. Aber auch Unternehmen aus dem Raum Wien etablieren sich zunehmend mit Verkaufsniederlassungen in den westlichen Ländern. Steigendes Selbstbewußtsein dokumentieren aber auch die Vertreter in den Gewerkschaften und die Landespolitiker der SPÖ. Der alte Gegensatz zwischen dem „roten“ Wien und dem „schwarzen“ Westen ist erheblich gemildert. Sozialisten aus Kärnten, Tirol und Vorarlberg haben bei der Wahl Kreiskys zum Parteivorsitzenden eine entscheidende Schlüsselrolle gespielt. Und im Salzburger Wahlkampf dokumentierte Steinoeher einen selbständigen Stil der Zusammenarbeit gegenüber der Zentrale in Wien.

Es steht fest: die Situation wird in den kommenden Jahren noch transparenter werden. Der Aufstieg Westösterreichs wird sich nicht nur in mehr Mandaten, mehr Menschen, mehr Einkommen und mehr Leistungskraft dokumentieren, sondern auch in mehr Selbstverständnis, Selbstbewußtsein und Desintegration. Der Osten Österreichs wird trotz Bemühungen nicht so leicht in der Lage sein, die geöffnete Schere wieder zu schließen. Denn der Verfall Wiens von einstiger Größe zu urbanisierter Provinz ist offensichtlich. Die Mentalität in der Bundeshauptstadt, aber auch in Niederösterreich, ist nicht auf Dynamik ausgerichtet. Mangelnde Wohnkultur, kleinbürgerlicher Habitus, Fehlen eines gesellschaftlichen Lebens und Geschmacksverfall könnten nur zu leicht die noch immer existierenden Chancen zerschlagen. Die Hoffnung auf den Brückenkopf nach Osten träumt Wien nun schon seit fast 20 Jahren. Es wird Zeit, sich auch um Alternativen umzusehen.

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