Ohne Politik ist die Wirtschaft verloren

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Kann, soll, darf der Staat regelnd, steuernd, mit Vorgaben in die Wirtschaft eingreifen? Das Thema wird auf der politischen Bühne ebenso wie hinter den Kulissen abgehandelt (der Rücktritt von Oskar Lafontaine hatte sehr wohl damit zu tun), von bücherschreibenden Ökonomen, in Zeitungen, Magazinen und Zeitschriften. Deutet die Präsenz des Themas in den intellektuellen Diskursen darauf hin, daß die Herrschaft der neoliberalen Doktrin zu Ende geht?

"Neoliberal" ist der klassische Fall eines Modeworts - allem zum Trotz, was man gegen seinen Gebrauch einwenden kann, versteht der Großteil der informierten Zeitgenossen, was gemeint ist: die Unterordnung der Politik unter ökonomische Interessen und die Zurückdrängung ihres Einflusses auf die Wirtschaft.

Für die von Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Sozialabbau Betroffenen bleibt undurchsichtig, ob echte oder behauptete wissenschaftliche Erkenntnis den Weg weist oder bloß die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen und Geldanleger stützt, welche Rolle nationale Interessen spielen, ob die Politiker aus Einsicht handeln oder sich Gruppen ausgeliefert haben, die nur einen winzigen Anteil ihrer Wählerpotentiale bilden, ob sie in ihrem geschäftigen Leerlauf überhaupt noch zum Denken kommen.

Daß immer mehr Menschen daran zweifeln, daß die Politik ihre Interessen vertritt oder überhaupt den Hut auf die Politik hauen, ist eine Binsenweisheit. Daß der Hut in Österreich blau ist, versetzt die heimischen Sachwalter der Sachzwänge in Panik.

Ethische Argumente begegnen uns ständig. Doch "neoliberal" ist ja eben das Etikett einer Politik, die ihre soziale Funktion nur noch nach Maßgabe des von den Sachzwängen Erlaubten akzeptiert und ethische Forderungen frei nach Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" mit der Berufung auf die Wirklichkeit abschmettert. "Wir wären gut, anstatt so roh - doch die Verhältnisse, die sind nicht so."

Die Doktrin, wonach nur eine Politik, die die Wirtschaft in Ruhe läßt, eine gute Politik ist, dient aber nicht nur Interessen. Sie beruft sich auch auf die Richtigkeit der ihr zugrundeliegenden theoretischen Annahmen. Die wichtigste geht auf den Urklassiker Adam Smith zurück, der sie allerdings selbst relativierte: Wenn sich alle so verhalten, wie es ihrem Eigeninteresse entspricht, kommt ein für alle optimaler Zustand heraus. Dafür sorgt die vielzitierte "unsichtbare Hand". Daraus leitet sich die zweite, derzeit besonders hoch im Kurs stehende Annahme ab: Wenn die Politik in die Wirtschaft eingreift, pfuscht sie bloß der "unsichtbaren Hand" ins Geschäft und hindert sie an der Herbeiführung des größten möglichen Glücks für die größte Zahl.

Der Beweisführung, daß der Staat nur Unheil stifte, wenn er sich reglemetierend in die Wirtschaft einmischt, haben sich im Lauf der Zeit zahlreiche Autoren gewidmet. Einige besonders Renommierte entstammten der österreichischen Schule der Nationalökonomie. Ludwig von Mises, der in den zwanziger Jahren nachwies, daß Planwirtschaft nicht funktionieren kann, oder Friedrich von Hayek, der sogar die Tätigkeit der Notenbanken privatisieren wollte, auf daß sich das beste private Geldsystem durchsetzen könne, und damit selbst dem neoliberalen Guru Milton Friedman zu weit ging.

Ob eine völlig sich selbst überlassene, konsequent von allen staatlichen Reglementierungen befreite Wirtschaft funktionieren könne, wurde von den bürgerlichen Ökonomen hingegen niemals mit gleicher Ernsthaftigkeit untersucht. Deshalb kann sich die in den WTO-Verhandlungen ebenso wie von der EU als richtig vorausgesetzte Doktrin nach wie vor auf unbewiesene Behauptungen stützen, die durch unablässige Wiederholung zwar dogmatisch verfestigt, aber nicht bestätigt werden.

Jede Epoche hat die Frage aller Fragen, von deren Beantwortung alles weitere abhängt. Heute muß sie lauten: Ist die Wirtschaft ein selbstregelndes System mit einer eingebauten Rückstellkraft, die konjunkturelle Schwankungen ausgleicht? Existieren Kräfte, die, in eine Richtung wirkend, das konjunkturell um eine Mittellage oszillierende System aus dem Gleichgewicht bringen?

Was geschehen kann, wenn die stabilisierenden Kräfte des Systems Wirtschaft gar nicht oder so träge reagieren, daß das System Politik instabil wird, haben wir erlebt. Heute manifestiert sich die Wirkung eines destabilisierenden Faktors in der Zunahme der Arbeitslosigkeit trotz ansehnlicher Wachstumsraten auf nicht länger übersehbare Weise. Der Faktor, der das System aus dem Gleichgewicht bringt, ist diesmal die progressive Verdrängung der menschlichen Arbeitskraft aus dem Wirtschaftsprozeß. Statt sich diesem Problem zu stellen, entledigt man sich seiner mit einer neuen gebetsmühlenhaft heruntergebeteten Annahme. Neue Innovationen würden das Manna der neuen Arbeitsplätze vom Himmel regnen lassen. Doch es regnet kein Manna, sondern der Arbeitsmarkt trocknet weiter aus. So wird es zwangsläufig auch weitergehen. Der Fortschritt hat längst auch die Dienstleistungen ergriffen und macht vor den innovativen neuen Produktwelten nicht halt, wie die Zunahme der Produktivität im Kommunikationsbereich beweist.

Würde sich ein Ludwig von Mises heute dieser immer weiter deregulierten Wirtschaft annehmen, müßte er ihr ein ähnliches Schicksal prognostizieren wie der Planwirtschaft: Scheitern an sich selbst. Die Wirtschaft ist auf Gedeih und Verderb auf Wachstum angewiesen. Doch mit jedem Arbeitsplatz schafft sie auch Kaufkraft ab, die auf diese Weise insgesamt zurückgeht, statt zuzulegen. Die Exportabhängigkeit nimmt zu. Selbst bei boomenden Exporten ist es nicht mehr möglich, die erzielten Gewinne, weitere Gewinne versprechend, zu reinvestieren, wie es dem Wesen des Kapitalismus entspräche. Daher der gigantische Überhang an Spekulationskapital, die Berg- und Talbahn der Börsen. Wenn die Politik die Wirtschaft weiter sich selbst überläßt und infolge dieser Untätigkeit der Arbeitsmarkt weiter verfällt, muß dies unweigerlich auch zu einem Nachlassen der Ertragslage der Unternehmen führen, die auf deren Börsenwert zurückschlägt. Fragt sich nur, was dann zuerst nachgibt: Das politische System unter der Arbeitslosigkeit, oder die Geldmärkte mit allen schrecklichen Folgen.

Die Frage ist daher nicht, ob die Politik eingreifen soll, sondern wie sie es tun kann, sobald der Kollaps selbst für die Politiker absehbar geworden ist und der Leidensdruck die Dogmen und Blockaden aufgeweicht hat. Entgegen allem, was derzeit als richtig gilt, wird die Politik bei der Ursache ansetzen und dafür sorgen müssen, daß sich der Zuwachs an Produktivität verlangsamt. Dies ist sowohl legitim als auch möglich.

Es ist legitim, weil der Energieverbrauch den Motor der Produktivität darstellt und die Abschaffung der Arbeit vorwiegend auf Kosten nicht erneuerbarer Ressourcen erfolgt, also den Effekt einer Subvention hat, mit der unsere Nachkommen die heutigen Produktivitätszuwächse stützen. Die USA stemmen sich in der WTO zwar gegen Subventionen für die Bauern, aber nicht gegen die Subvention der Energieverschwendung auf Kosten der Zukunft. Machbar ist es wahrscheinlich am einfachsten mittels einer Energieabgabe, die allen Unternehmen auferlegt, aber als deren gemeinsames Guthaben behandelt wird. Die Belastung des Unternehmens erfolgt entsprechend seinem Energieverbrauch, die Refundierung pro Arbeitsplatz.

Die Widerstände gegen das Durchschauen kausaler Zusammenhänge und gegen adäquate Problemlösungen sind weder wissenschaftlich noch praktisch, sondern dogmatisch. In der Wissenschaft sind Dogmen eine Katastrophe. Wissenschaftliche Annahmen müssen, schlag nach bei Karl Popper, stets falsifizierbar bleiben. Die unbewiesenen Annahmen der Wirtschaftswissenschaft aber sind in die Vertragswerke eingegangen und binden die WTO- und die EU-Mitglieder. Dogmen und Irrtümer, rechtlich verfestigt und mit politischer Macht zementiert. Daraus werden uns allen noch ganz schöne Probleme erwachsen.

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