Wer ist schuld an der Wirtschaftskrise?

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Die Gier sei der Grund für die aktuelle globale Finanzlage, behaupten einzelne Politiker und religiöse Würdenträger. Doch es waren die zu weit gesteckten Grenzen, die zur Krise führten.

Wer oder was ist schuld an der Wirtschaftskrise? Die Antwort zu dieser Frage, so viel ist sicher, wird die Jahre nach der Krise in entscheidender Weise prägen. Denn letztlich hängen viele der jetzt getroffenen Maßnahmen von den angenommenen Ursachen der Krise ab. Zurzeit dominieren noch konjunkturelle Interventionen die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die daraus entstehenden Staatsschulden und Staatsbeteiligungen werden auch sicherlich noch lange nachwirken. Die eigentlich entscheidenden ordnungspolitischen Maßnahmen ("Regulierungen") sind angesichts der unglaublichen, tagtäglich gemeldeten Milliardeninterventionen und unvorstellbaren Kursverluste an den Börsen in den Hintergrund getreten. Diese Entwicklung der Diskussion und die öffentliche Wahrnehmung der Krise ist umso bedauerlicher, als es nicht zuletzt genau jener ordnungspolitische Rahmen ist, der alleine eine neue Auflage einer Weltwirtschaftskrise verhindern kann.

Irrige Interpretationen der Krise

Dass diese Diskussion aber nicht wirklich stattfindet, hat mindestens zwei Ursachen. Erstens haben trockene Finanzmarktgesetze keinen hinreichenden Nachrichtenwert in auf Aufreger programmierten Gesellschaft. Ausnahme ist da nur das Bankgeheimnis, wenngleich auch diese Diskussion eines irrationalen Elements nicht entbehrt: Während es tatsächlich um die Transparenz in der Verfolgung von Geldsummen geht, von denen der Durchschnittsbürger nicht zu träumen wagt, sieht sich genau dieser bedroht - als ob bei Aufgabe des Bankgeheimnisses der Schrebergartennachbar ohne weiteres das fremde Vermögen am Bankschalter abfragen könnte. In Wahrheit würde der Durchschnittsbürger wohl eher gewinnen, da sich durch eine Verringerung von Steuerumgehungsstrategien ein höheres Maß an Steuergerechtigkeit wieder einstellen könnte. So betrachtet bleibt auch die einzige ordnungspolitische Diskussion auf einem suboptimalen Niveau. Zweite Ursache ist eine fatale Fehleinschätzung der Wirkungsmechanismen einer kapitalistischen Ökonomie. Am deutlichsten wird diese irrige Interpretation der Krise in den Stellungnahmen von religiösen Würdenträgern, die jedoch auch von Politikern (oder jüngst vom Verfassungsgerichtshofspräsidenten Holzinger), sei es aus Naivität oder politischem Kalkül, gerne aufgegriffen wird. Demnach sind die Wurzeln der Fehlentwicklungen, die sich nunmehr in zunehmender Arbeitslosigkeit und sinkendem Sozialprodukt manifestieren, mit einem Wort zu erklären: Gier. Wer hätte das gedacht! Die gierigen Manager, die gierigen amerikanischen Hausbesitzer, die unbedingt ein Eigenheim wollten, obwohl ihnen ihr Einkommen das gar nicht erlaubt hätte, die gierigen privaten und institutionellen Anleger, die in Kapitalanlagegesellschaften investierten, die wiederum jene berühmt berüchtigten "Asset-backed Securities" kauften, die gierigen …

Die Schlussfolgerung ist ebenso schlicht und klar - und deswegen ebenso gut als Lösung geeignet wie die Gier zur Erklärung: Es fehlt an Moral! Das ist erstaunlich, denn Moral kommt in keinem einzigen Buch über Volkswirtschaftslehre vor, sei es marxistischer oder bürgerlicher Provenienz. Einzig der englische Begriff "Moral Hazard" findet sich in einigen Stichwortverzeichnissen, damit ist jedoch ein spezifisches Problem für Versicherungsunternehmen bei der Festsetzung der optimalen Höhe der Schadensabdeckung gemeint, also nichts, was für unser Problem von unmittelbarer Relevanz wäre. Möglicherweise sind aber Ökonomen auch einfach dumm, wie es Erich Streissler einmal formulierte. Wir gehen im Rahmen dieses Artikels aber von gegenteiliger Annahme aus.

Profitstreben kein neues Phänomen

Offenbar muss also in den Jahren, die zur Krise führten, ein Verfall der Moral eingesetzt haben. Dies lässt sich zum Glück der Vertreter dieser These freilich auch nicht einfach widerlegen, wenngleich die Tatsache, dass die Konstatierung moralischen Verfalls jede Epoche der Geistesgeschichte der Menschheit wie ein roter Faden durchzieht, zur Vorsicht gemahnen sollte. Auch ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass das Streben nach Profit kein neues Phänomen ist. 1840, in einer Zeit also, in der das Leben der Menschen noch weit mehr als heute von religiösen Normen und Sittlichkeitsvorstellungen bestimmt war, schrieb etwa ein englischer Schuhmacher folgende Beobachtung nieder: "Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens."

Nicht ins Bild passend ist auch die Tatsache, dass beide Weltwirtschaftskrisen, jene von 1929 und jene von 2008, von jenem Staat ausgingen, der wie kaum ein anderer moralische Tugenden und gute Sitten als Bestandteil kollektiven Bewusstseins internalisiert hat. Die USA sind aber auch jener Staat, in dem der Anteil der regelmäßigen Kirchenbesucher unter den Katholiken bei 46 Prozent liegt (Frankreich 8 %, Deutschland 13 %, Österreich ca. 16 %). Die letzten Jahrzehnte waren in den USA auch nicht von einem Niedergang religiöser Aktivitäten gekennzeichnet, sondern, im Gegenteil, von einer zunehmenden, bisweilen sehr problematischen Bedeutung religiöser Überzeugungen im öffentlich-politischen Prozess.

Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ableiten: Entweder hat die Intensität religiöser Aktivitäten keinen oder nur einen unbedeutenden Einfluss auf das moralische Niveau einer Gesellschaft - oder es war eben nicht die Gier, welche ausschlaggebend für den Ausbruch der zweiten Weltwirtschaftskrise war. Dass Letzteres zutrifft, liegt im grundlegenden Mechanismus des Kapitalismus begründet.

Dieser wurde bereits von Adam Smith erkannt und später von Karl Marx noch genauer herausgearbeitet. Es geht dabei um die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander. Das Verständnis dieses Konkurrenzmechanismus' ist entscheidend, will man die Krise verstehen und sinnvolle Schlüsse aus ihr ziehen. Holzschnittartig lässt sich das folgendermaßen darstellen: Unternehmen werden im Durchschnitt nur dann am Markt überleben, wenn sie eine annähernd ähnliche Rendite erzielen bzw. annähernd gleich günstige oder gute Produkte wie die Konkurrenz anbieten. Andernfalls droht dem Unternehmen der Konkurs: "Die Marktwirtschaft beruht letztlich auf dem Konkurs" (Felix Somary). Will also ein Unternehmen den Konkurs vermeiden, so muss es nachziehen, wenn ein anderes Unternehmen einen mittelfristig höheren Profit erzielt. Das ist besonders einleuchtend bei Innovationen, und das angesprochene Produkt der "Asset-backed Securities" ist in diesem Sinne ja auch nichts anderes als eine spezifische Form der Innovation, nämlich eine Finanzinnovation. Das Pionierunternehmen ist frei, es führt die Innovation ein und erzielt eine überdurchschnittliche Profitrate. Wenn also zum Beispiel eine Bank mittelfristig höhere Zinserträge als andere verspricht, so werden alle Sparer ihr Geld zu dieser Bank verschieben. Alle anderen Banken sind damit potenziell vom Untergang bedroht. Sie sind gezwungen, die Innovation möglichst schnell nachzuvollziehen, um den Kunden eine ähnlich hohe Rendite wie die Konkurrenz zu ermöglichen. Der Ökonom William Baumol hat dies mit "innovate or die" auf den Punkt gebracht. Wer wird aber jemandem, dem das Messer angesetzt wird, mit Hinweisen auf Moral oder Gier weiterhelfen können? Niemand.

Die Stunde der Ordnungspolitik

Jetzt kommt die Ordnungspolitik ins Spiel. Sie setzt die entscheidenden Grenzen, innerhalb derer Konkurrenz stattfinden soll und darf. Sind diese Grenzen zu weit gesteckt, so zerreißt der Konkurrenzmechanismus das Wirtschaftssystem. Gleichzeitig gibt es aber auch hier einen wohlbekannten Zielkonflikt: Werden die Grenzen nämlich zu eng gezogen, so gibt es zu wenig (sinnvolle!) Innovationen. Der Kapitalismus als Organisationsform des Wirtschaftens trägt eben beide Seiten in sich: Einerseits kann er als Wachstumsmaschine dienen, welche die materiellen Lebensgrundlagen der Menschheit in nie zuvor gekannter Art und Weise verbessert hat, andererseits trägt er - bei einem ungezügelten Konkurrenzmechanismus - das Potenzial zur Selbstzerstörung in sich. Mit Keynes gesprochen benötigen wir wieder eine nüchterne Sicht auf Vor- und Nachteile des Kapitalismus, einen "capitalism wisely managed". Eine Diskussion über die mittels ordnungspolitischer Regulierungen gesetzten Grenzen der Konkurrenz ist überfällig. Nicht moralisch fehlgeleitete Spieler, sondern schlechte Spielregeln sind die Ursache der Krise!

* Der Autor ist Mitglied der Arbeitsgruppe Wirtschaftsgeografie an der Universität Salzburg

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