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Schlimmer als Herzinfarkt?

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Die liberale Weltanschauung sei „schlimmer als ein Herzinfarkt“, so ließ sich vor kurzem ein Politiker des linken Flügels der CDU/CSU vernehmen. Seine Äußerung fiel knapp vor dem Parteitag, auf dem Bundeskanzler Erhard zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Diesem Ereignis war bekanntlich ein heftiges Tauziehen zwischen den diversen Gruppen vorausgegangen; ebenso hatten die Sozialausschüsse der CDU/CSU ein starkes propagandistisches Störfeuer eröffnet. Unter anderem erklärte der rheinische CDU-Politiker Grundmann, einer der kommenden Männer der Partei, es gehe nicht an, daß die CDU unter dem neuen Vorsitzenden eine „liberale Wirtschaftspartei“ werde. Im Organ der Sozialausschüsse hieß es sogar, eine „völlig verfehlte Wirtschaftsideologie“ habe bis in die jüngste Vergangenheit hinein eine integrierte Wirtschafts- und Sozialpolitik verhindert; es werde ein „Kesseltreiben gegen die soziale Substanz unseres Rechtsstaates veranstaltet.“

Warum diese ausführliche Zitierung? Keineswegs um einer Mode verschiedener österreichischer Publikationen zu frönen, die sich „deutscher als die Deutschen“ gebärden und deren politische Teile mit ihrer Forcierung deutscher Probleme selbst in Bonn als outriert empfunden werden. Der Hinweis hat einen anderen Grund: Ähnliche Äußerungen vernimmt man gelegentlich auch in Österreich — von Anhängern der katholischen Soziallehre und aus Kreisen des Arbeiter- und Angestelltenbundes.

Überbleibsel?

Welche Vereinfachung aber spricht daraus! Das Liberale spukt dort offenbar als ein Phantom aus der Steinzeit der neuzeitlichen Wirtschaft. Liberalismus, das wird gleichgesetzt mit schrankenloser Freiheit, ja Zügellosigkeit, mit rücksichtsloser Brutalität. Man denkt an 14- bis 16stündige Arbeitstage, an Frauen- und Kinderarbeit, an Elendsviertel, Hungerunruhen; gleichzeitig an das Wohlleben der geistigen Vertreter und wirtschaftlichen Nutznießer dieser Art von Liberalismus. Wer könnte heute noch leugnen, daß dieser „Paläolibe- ralismus“ sich nicht sehr mit Ruhm bedeckt hat, daß er harte Kritik verdient (die ihm von den modernen Liberalen auch keineswegs verweigert wird), daß er in seiner Religionsfeindlichkeit viel Schuld auf sich geladen hat? Aber die Gerechtigkeit gebietet, auszusprechen, daß auch das menschliche Denken und Handeln einem Evolutionsprozeß unterworfen ist, daß die liberale Wirtschaftsauffassung von ehedem eine natürliche Reaktion auf vorherige Eingriffe des Staates in die Wirtschaft war, daß sie ungemein viele Kräfte freisetzte und damit auch an den Fundamenten unseres heutigen wirtschaftlichen Wohlstandes und unserer sozialen Sicherheit mitbaute. Man sollte ferner nicht vergessen, daß gerade Repräsentanten dieser liberalen Weltauffassung — ohne das Schmalz der „human relations“ von heute — wußten, was ihre soziale Pflicht ist, daß sie eine fruchtbare mäzenatische, caritative und Stiftungstätigkeit entfalteten und so manchen Beitrag zum kulturellen und geistigen Leben leisteten.

„200 Jahre älter“

Am 8. Februar 1933, eine Woche nach der Machtergreifung Hitlers, hielt Röpke in Frankfurt am Main eine Rede, die ihn kurze Zeit darauf seine Lehrkanzel kosten sollte. Er befaßte sich auch mit den nationalsozialistischen Invektiven gegen die Liberalen; er sprach davon, daß jede politische Massenbewegung gewisse Gegner brauche, um ihre Gefolgschaft zum Haß zu entflammen — „Schießbudenfiguren“, wie Röpke sie nannte —, zu denen er in Deutschland vor allem die Liberalen zählte. Röpke sagte dann wörtlich:

„Zu allererst haben wir einzusehen, daß der Liberalismus in diesem weiten und tiefen Sinn, in dem der Ausdruck hier allein verwandt wird, keine Erfindung des 19. Jahrhunderts und nicht mit dem politischen oder ökonomischen Liberalismus dieses Jahrhunderts zu identifizieren ist. Tatsächlich ist er um mindestens zwei Jahrtausende älter. Er bezeichnet ein kulturelles Kraftzentrum,

das in allen Blüteperioden abendländischer Kultur wirksam gewesen ist und von den Gedanken der Besten aller Zeiten gespeist worden ist, mag auch die tiefe Unbildung unserer Zeit nichts mehr davon wissen.“

Dies sprach jener Röpke, von dem der protestantische Pfarrer, der ihn auf dem letzten Weg in einem Dorf am Genfer See begleitete, sagte, er habe nie ohne Gott gelebt, er habe als großer Humanist und gläubiger Christ auch im Kreis seiner Familie gewirkt und ein vorbildliches Leben geführt. Der bekannte Schweizer Nationalökonom Professor Eugen Böhler hat in einem ungemein noblen Nachruf auf Röpke darauf hingewiesen, daß der Verewigte die Nationalökonomie wieder als ethische oder politische Wissenschaft restauriert habe, wie sie es vor Adam Smith gewesen sei. In seinem geistigen Gedankengebäude stehe die Religion in der Rangordnung der Werte an der Spitze.

So wie Röpke und Böhler, welch letzterer im übrigen in einem jüngst erschienenen Sammelwerk sich sehr klar mit der Begriffsbestimmung des Liberalismus befaßt hat, äußerten auch Alexander Rüstow und Walter Eucken, von den noch lebenden Repräsentanten der neoliberalen Schule vor allem Professor Alfred Mülier-Armack, der als der „Erfinder“ des Wortes von der „Sozialen Marktwirtschaft“ gilt und der den Beziehungen zwischen Religion und Wirtschaft ein profundes Oeuvre gewidmet hat.

Der Staat — „Marktpolizei“

Dieses „Ohne-selbst-denken-zu- Müssen“ sehen wir als einen Kernsatz an. Denn weil nicht nachgedacht wird, wird die liberale Wirtschaftsauffassung a priori schlechtgemacht. Etwa so, als fördere sie auch heute noch ein völlig freies Spiel der Kräfte, ohne Ordnungselemente, ohne gesetzlichen Rahmen. Was aber tut die Soziale Marktwirtschaft in Wirklichkeit? Sie weist dem Staat viel mehr zu als die Funktion des Nachtwächters im klassischen liberalen Sinn. Er hat durch Gesetze den Rahmen des Wettbewerbes abzustecken, er soll, wie Rüstow es einmal formulierte, „Marktpolizei“ sein, er soll auch dafür sorgen, daß die Wirtschaftsordnung ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit zustande- b ringt.

Nun übersieht die Kritik an der Marktwirtschaft, daß jedes vom Menschen geschaffene System unvollkommen ist, unvollkommen bleiben muß. Aber kann sie — mit Überzeugung — übersehen, daß diese Wirtschaftsordnung, die die ordnende Kraft des Staates mit der freien Betätigung des Menschen und seiner Entfaltung zur eigenständigen Persönlichkeit in Einklang bringt, gerade der breiten Masse des Volkes einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg gebracht hat, wie er noch vor 20 oder 30 Jahren für utopisch gehalten worden wäre? Die Erfolge dieser Ordnung sind nicht einzelnen „Klassen“, sie sind dem ganzen Volk zugute gekommen. Wäre es daher nicht eine geradezu sträfliche Kurzsichtigkeit, unter dem Banner „sozial“ durch Einfügung ihr wesensfremder Elemente jene Ordnung derart zu zerrütten, daß schließlich auch Wohlstand und Sicherheit gefährdet werden müßten?

Aber , so wird dann argumentiert, die Marktwirtschaft führe doch nur zur Anstachelung des „Konsumwahns“, zur Verbrauchswut, zur seelischen und moralischen Degeneration. Gegenfrage: Welche Folgen, vor allem für die seelische Wohlfahrt der Menschen, hat ein Wirtschaftssystem, das auf Lenkung und Zwang aufgebaut ist?

Man muß in der heutigen Zeit — „gegen die Brandung“, wie Röpke es genannt hat — den Mut haben, sich zu gewissen Begriffen zu bekennen, auch wenn die Affekte gegen sie in der Massenstimmung überwiegen — und geschürt werden.

„Konservativ“ ;st einer davon, „liberal“ ein anderer. Ebensowenig wie der echte Konservative ein Reaktionär ist, ist der moderne, „aufgeklärte“ Liberale Atheist, antisozial und schrankenlos-individualistisch. Eine freiheitliche Ordnung allerdings ist nicht unkompliziert, sie verlangt denkende Menschen, die auch schwierigeren Überlegungen zugänglich sind. Es ist einfach, ein liberales Phantom zu kritisieren, aber schwerer, die engen Wechselbeziehungen zwischen Wettbewerb, Wohlstand und menschlicher Persönlichkeit zu verstehen. Denn nicht eine soziale Errungenschaft hätte verwirklicht werden können, wenn nicht die auf liberalen — liberalen im guten Sinne — Grundsätzen fußende Marktwirtschaft die materielle Basis dafür geschaffen hätte. Gewiß, Marktwirtschaft ist nicht alles, sie muß in ein höheres geistiges und ethisches System eingebettet werden. Aber das Wirtschaftliche ist, um noch einmal Rüstow zu zitieren, das Fundament, auf dem sich alle anderen Werte erst voll entfalten können.

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