Füße - © Foto: Pixabay

Arbeitslos - na und?

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Arbeit wird knapp und es gibt kein Zurück zur Vollbeschäftigung. Ein Plädoyer für sozialen Reichtum statt Geldwohlstand.

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Arbeit wird knapp und es gibt kein Zurück zur Vollbeschäftigung. Ein Plädoyer für sozialen Reichtum statt Geldwohlstand.

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Entschlossenheit im Kampf gegen die "Geisel der Globalisierung", die Arbeitslosigkeit, eint Parteien und Fraktionen; sie ist längst das lagerübergreifende Pflichtritual all jener, die beim Wähler souverän um Zustimmung anstehen. "Sozial ist, was Arbeit schafft", texten jene, die seit jeher ein Interesse daran hatten, dass beim Was, Wie und Warum einer immer fragwürdigeren Massenproduktion keiner so genau hinschaut und nachfragt. Und im Umkehrschluss gilt: "Alles muss weg, was Arbeit verhindert!"; als da sind: Steuern, Umweltauflagen, Gewerkschaften, Kündigungsschutz, Sozialstaat. Keinen stört dabei paradoxerweise der kleine Schönheitsfehler, dass der geradezu schamenthemmte Kotau vor den Markt- und Wirtschaftskräften manches bewirkt und ermöglicht hat - nur eben keine Arbeitsplätze. Im Gegenteil: Massenentlassungen münden geradewegs in die Jubel- und Champagnerfeiern aus Anlass exorbitanter Steigerungen bei Renditen, Unternehmensgewinnen und Aktienkursen.

Vollbeschäftigung ist vorbei

Längst läuft der Countdown zum neuen Aufschwung, doch die alte Formel: gesteigerter Absatz, größere Erträge, verstärkte Investitionsaktivitäten gleich mehr Arbeitsplätze, will nicht mehr greifen. Das "neue" Wachstum trägt nicht mehr an die Gestade der Vollbeschäftigung.

Es gibt kein Zurück zur alten Vollbeschäftigung. Arbeit wird knapp, weil wir so erfolgreich gearbeitet haben. Die hohe Fruchtbarkeit der Arbeitsstunde ist der Hauptgrund für den Arbeitsschwund: Wir bedienen uns einer Technik, die menschliche Arbeit fortschreitend überbietet und ersetzt; einer der menschlichen Arbeitskraft überlegenen Technik, die einen wachsenden Bevölkerungsteil zum "Müßiggang" freistellt, ja nötigt.

Auch die viel beschworenen "neuen Technologien" werden hieran nichts ändern - sie werden diese Tendenz noch verstärken. Ist es doch Sinn dieser neuen Technologien, Arbeit in Gestalt menschlicher Arbeitskraft einzusparen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich um keinen Deut von den alten Technologien, die ja die neuen von gestern sind.

Chancen für das Paradies?

Was ist daran eigentlich so schlimm? Was ist so schlimm, dass die Mitglieder der modernen Gesellschaften sich immer weniger in harter Arbeit verausgaben müssen, um das Lebensnotwenige zu besorgen? Was ist so schlimm, wenn harte Arbeit weniger wird und trotzdem - bei anhaltend hoher Güterversorgung und auf einem historisch unvergleichlichen Wohlstandsniveau - keiner hungern und darben muss, weil die Gesellschaft sich um ein Verteilungsarrangement bemüht, welches allen Bevölkerungsgruppen (also auch den Arbeitslosen) ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand und am Fortschritt der Arbeitsproduktivität sichert?

In Wahrheit ist die Klagemauer "Arbeitslosigkeit", an der sich heute alle versammeln, ein uralter Menschheitstraum. Im Paradies wurde bekanntlich nicht geackert und gerackert. Die im Schweiße des Angesichts verrichtete Arbeit ist eine Folge des Sündenfalls.

Über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hinweg haben unsere Vorfahren nicht aufgehört, den Traum des verlorenen Paradieses zu träumen. Vielleicht verstehen wir erst heute, da wir uns dem Ende der alten Arbeitsgesellschaft nähern, welch grandioses Sehnsuchtsbild, welch verheißungsvolle Entlastungsphantasie eines besseren Lebens uns die Bibel liefert.

Heute, da wir, wie keine Menschheitsgeneration zuvor, diesem Ziel nahe sind, haben wir, so scheint es, das Träumen gründlich verlernt. Kein Arbeiterführer, kein Politiker im weiten Rund, der es wagte, kraftvoll an die Pforten des Paradieses zu pochen; niemand, der die Verheißungen jenes Garten Eden anmahnte, in dem Milch und Honig fließen und die Menschen ganz ohne Arbeit glücklich leben.

Jahrhundertelang haben Menschen davon geträumt, einmal weniger arbeiten zu müssen und Muße zu haben fürs Unnütze, aber Eigentliche der menschlichen Kraftentfaltung jenseits der Scheidelinie ordinärer Bedürftigkeit: für die ebenso "überflüssigen" wie schönen und angenehmen kulturellen Hervorbringungen in Literatur und Kunst, Musik und Spiel, Philosophie und Religion.

Wir sind in den letzten 200 bis 300 Jahren Industriegesellschaft (das heißt wörtlich Fleißgesellschaft!) so gründlich durch die Schule der Arbeit gegangen, dass wir kaum mehr über sie hinauszudenken vermögen.

Es steht zu befürchten, dass wir, die wir im Okzident kaum anderes gelernt haben als zu arbeiten, auf das sich abzeichnende Ende der Arbeitsgesellschaft schlecht vorbereitet sind. Nicht die Schwielen an den Händen sind unser Problem, sondern die Hornhaut auf der Seele, die geistige Verhärtung, die Versteppung unseres Gefühls, die Erosion des Spielerischen, der Verlust der Schönheit, der Niedergang der Bildung. Ein Mehr an arbeitsfreier Zeit bedeutet vor solchem Hintergrund nicht zugleich schon ein Mehr an Options- und Gestaltungsfreiheit für den einzelnen, sondern eher noch größere Leere, noch tödlichere Langeweile, noch weniger Sinn und Ziel. Damit aus Fluch Segen wird, damit wir als Chance wahrnehmen, was gegenwärtig alle als Schicksalsschlag empfinden, müssen wir erst kräftig "Hand an uns selber" legen. Die Freizeitgesellschaft ist vor allem anderen eine pädagogische Herausforderung: Sie setzt Mußefähigkeit voraus, Bildungsbereitschaft, soziale und ästhetische Sensibilität, den Willen zur Entfaltung und Erweiterung der eigenen Persönlichkeit.

Ohne den kulturellen Bildungswillen wird die Befreiung aus den Zwängen und Fallstricken der entfremdenden Arbeit nicht gelingen. Ohne den neuen Primat von Kultur und Bildung wird es nicht gelingen, die Arbeit und ihren siamesischen Zwilling, den mit Arbeit erkauften Konsum, in die Schranken zu weisen. Musste die Antike noch die Muße- und Bildungsprivilegien einiger weniger mit einem Heer von Menschensklaven bezahlen, könnten wir heute mit Hilfe unserer hocheffizienten Maschinensklaven das kulturelle Befreiungswerk für alle vollbringen.

Die Pflicht zur Muße

Die Krise der Arbeitslosigkeit als Chance zur kulturellen, sozialen und ästhetischen Selbstverwirklichung des Menschen? Arbeitslosigkeit bedeutet zunächst ganz unzweifelhaft die Chance, all die Dinge zu tun, für die man eigentlich kein Geld, wohl aber Zeit und Interesse braucht. Was aber wissen wir noch von den Chancen und Möglichkeiten einer von Arbeit befreiten Gesellschaft, was von den Optionen einer Gesellschaft jenseits der Ökonomie?

Der Unterschied ist ungeheuer, ob die Welt vom Standpunkt der Kontemplation oder vom Standpunkt der Arbeit her erschlossen wird, ob der aktiv-arbeitsförmige Umgang mit der Welt oder das zuschauende Teilhaben an ihr den archimedischen Punkt der Welt- und Selbstinterpretation bezeichnet; ob die spezifische Kulturleistung des Menschen - die Erzeugung der Sinnhaftigkeit des Daseins - den Rang der wichtigsten "Produktion" einnimmt, oder ob dieser Rang der Beschaffung von Brot und Wein, Haus und Herd, Waffe und Werkzeug zukommt; ob eine Gesellschaft den Geldwohlstand oder den kulturellen und sozialen Reichtum in den Mittelpunkt stellt.

Wir stehen heute am Ende einer alten Tugend, der Arbeitstugend, und am Anfang einer neuen, für die wir, außer einem ganz alten, noch keinen zeitgemäßen Namen kennen. Das Recht auf Arbeit bedarf der Ergänzung, vielleicht schon der Ersetzung durch die Pflicht zur "Muße".

Der Autor ist Professor für Politische Wissenschaften in Berlin.

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