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Digital In Arbeit

Arbeitsentfremdung?

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Hier spricht der Arzt. Möge sich seine provokante These in manchem von den Bestrebungen der Sozialpolitiker unterscheiden — sie will gehört, gewogen, überdacht werden. Wir wissen zuwenig von den Licht- und Schattenseiten der kommenden „Freizeitgesellschaft“, als daß wir nicht alle Möglichkeiten erwägen sollten, sie zum Heile und nicht zum Verderben der Menschen zu gestalten. Die Furche

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Hier spricht der Arzt. Möge sich seine provokante These in manchem von den Bestrebungen der Sozialpolitiker unterscheiden — sie will gehört, gewogen, überdacht werden. Wir wissen zuwenig von den Licht- und Schattenseiten der kommenden „Freizeitgesellschaft“, als daß wir nicht alle Möglichkeiten erwägen sollten, sie zum Heile und nicht zum Verderben der Menschen zu gestalten. Die Furche

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Aller technischer Fortschritt dient letztlich dazu, dem Menschen das Leben zu erleichtern, ihm jede nur mögliche Bequemlichkeit zu geben und außerdem die Bedrohung durch die Naturkräfte auszuschalten. Kein Mensch muß mehr so schwer und so viel arbeiten wie noch vor wenigen Generationen. Man hat berechnet, daß beispielsweise eine Arbeit in der Landwirtschaft, für die vor hundert Jahren zweieinhalb Stunden aufgewendet werden mußten, heute von einer Maschine in vier Minuten erledigt wird. Aber es ist doch ein Alarmsymptom, wenn der Bauer im vorigen Jahrhundert viel mehr als zehn Stunden täglich arbeitete und dabei gesund war, während man heute auch auf dem freien Land vegetative Dystonien selbst in den schwersten Formen antrifft. Denn die Befreiung von der schweren körperlichen Arbeit, die Förderung der Bequemlichkeit stärkt keineswegs die Anpassungsfähigkeit des Körpers, die Untätigkeit und Freizeit absolut nicht die Elastizität der geistigen Anlagen.

Entsprechend der eigenen Veranlagung, des Familienmilieus und der ganzen seelischen und geistigen Entwicklung gewinnt der Mensch nun eine ganz bestimmte Einstellung zu allen Lebensfragen, vor allem aber auch zur Arbeit. Es zeigt sich nun besonders an den beiden Extremen, daß die Ablehnung der Arbeit, de.r heimliche oder offene Groll gegen jede Tätigkeit in genauer Abhängigkeit zur Arbeit selbst ‘steht. Es gibt Menschen, die den ganzen Tag ausgefüllt arbeiten, auch mit einer Freude an die Arbeit gehen, und dies um so mehr, je größer auch der geistige Anteil an der geleisteten Tätigkeit ist. Auf der Gegenseite stehen all die Menschen, die nicht arbeiten und auch die größte nur mögliche Scheu vor einer geregelten Beschäftigung erkennen lassen. Dazwischen gibt es vielgestaltige Varianten, stets aber mit der Tendenz zu einer oder der anderen Richtung: Arbeitslust, Fehlen jeglichen Ressentiments gegen die Arbeit, ständige Weiterbildung und Ausbau der geistigen Anlagen oder aber Arbeitsscheu, Ressentiments gegen jede Arbeit, Bequemlichkeit, Untätigkeit in körperlicher und geistiger Hinsicht.

Nun kann gerade in der heutigen Zeit, da die Maschinen mehr und mehr die menschliche Arbeit verdrängen, die psychologische Erscheinung beobachtet werden: jede Verkürzung der Arbeitszeit vergrößert das Ressentiment gegen die Arbeit. Je mehr ein Mensch arbeitet, um so mehr geht er in der Arbeit auf, je weniger er arbeitet, desto größer wird die Abneigung vor jeglicher Tätigkeit. Besonders bei jungen Menschen kommt es sehr leicht zu einem verhängnisvollen Ressentiment mit den nachteiligsten Folgen für das ganze Leben.

Es genügt heute nicht mehr, wenn man bloß addieren und subtrahieren kann und das Kleine Einmaleins beherrscht. Das moderne Leben kann nur dann gemeistert werden, wenn man auch die erforderlichen geistigen Anlagen dafür ausbildet. Längst hat man erkannt, daß die seinerzeit gesetzlich fundierte Mindestschulausbildung absolut unzureichend ist. Man tritt damit nicht nur geistig unausgebildet in das moderne technische Leben, man kann auch letztlich mit all den technischen Errungenschaften nichts anfangen. Sosehr auch der menschliche Körper durch die Technik vorteilhaft entlastet wird, um so mehr bedarf es der ausgeweiteten geistigen Ausbildung, will man die technische Zivilisation auch wirklich erleben. Wer unvorbereitet der hochgespannten geistigen Beanspruchung des modernen Lebens gegenübersteht, wird unsicher und versagen. Er wird in die Welt der Neurose flüchten mit ihren Hauptsymptomen, wie Angst, Zwang, Konversion, Depression oder Sucht. DaS tägliche Leben bietet leider genügend Beispiele dafür.

Um so bedenklicher aber ist die einseitige Bemühung der Sozialpolitik unserer Tage um immer neue Benefizien in der Arbeitsleistung. Mit einer Konsequenz, die dem Freudschen Selbstvernichtungsdrang gleicht, fordert man pausenlos die Verkürzung der Arbeitszeit und unternimmt zuwenig, viel zuwenig, um die geistige Ausbildung zu fördern. Die jungen Menschen werden heute schon am Nachmittag auf die Straße geschickt, wo sie Gelegenheit haben, die Diskrepanz zwischen dem drängenden Konsumgüterangebot, der eigenen Unzulänglichkeit und dem mangelnden Selbstwerterlebnis zu registrieren, oder aber sie füllen die Espressostuben, rauchen, trinken koffeinhaltige Getränke und lauschen dem Gejohle aus der Musikbox. Natürlich ließe sich die Freizeit auch anders verwerten; man könnte durch Wandern und Reisen einen Schritt zurück zur Natur machen, man könnte ein wertvolles Buch lesen, eine Ausstellung besuchen, an fruchtbaren Diskussionen teilnehmen, kurz: man könnte die Zeit auch wirklich ausnützen. Wer aber mit offenen Augen durch die Straßen geht, wird zum größten Kummer erkennen müssen, daß davon keine Rede ist. Ueberfüllt sind die Kaffeehäuser mit jungen Menschen, die nutzlos die wertvollste, schönste Zeit des Lebens dahinstreichen lassen. Man will das Leben genießen — und mit jeder neu errungenen Arbeitszeitverkürzung wird das Ressentiment gegen die Arbeit größer, unheimlich, beängstigend größer. Man muß mit jungen Menschen, aber auch älteren Arbeitern sprechen, um die Gefahr zu erkennen.

Schon die nächsten Jahre werden noch deutlichere Auswirkungen des Atomzeitalters bringen. Die Automation wird noch mehr zunehmen, die Konsumgüterproduktion wird sich steigern, die Arbeitszeit wird noch mehr verkürzt werden. Es wird bald drei freie Tage in der Woche geben, und da an diesen Tagen kein Mensch mehr wird arbeiten wollen, werden die Menschen innerlich leer durch die ganze Wunderwelt der technischen Zivilisation dahinirren. Ablehnung jeder Arbeit, also auch Ressentiment gegen eine Fortbildung des Geistes. Und wenn nicht schon in der nächsten Zeit die verantwortlichen Sozialpolitiker erkennen, daß die Bequemlichkeit des Körpers angenehm und nützlich, die des Geistes aber lebensgefährlich ist, dann muß es früher oder später zur Katastrophe kommen. Ressentiment gegen die Arbeit erzeugt Ressentiment gegen den Geist, dies aber wäre der Untergang der technischen Zivilisation

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