Armut, die vergessene Erzählung

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Wird Armut im Alltag wahrgenommen, wird sie irgendwo inszeniert, in Architektur sichtbar oder in der Dramaturgie der öffentlichen Räume?

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Wird Armut im Alltag wahrgenommen, wird sie irgendwo inszeniert, in Architektur sichtbar oder in der Dramaturgie der öffentlichen Räume?

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Herr S. ist Grafiker, der ohne regelmäßige Erwerbsarbeit sein Einkommen fristen muß. Er hat eine Wohnung, laut eigener Aussage ein Nettoeinkommen knapp über 10.000 Schilling, ein B-free Handy, das er je nach Finanzlage aktivieren kann; immerhin ist er passiv damit erreichbar. Herr S. ist kein Obdachloser, keiner der "plakativen Armen", selbst nach der gängigen statistischen Bemessung von Armut würde er nicht als solcher gelten. Dennoch: Herr S. geht nicht mehr in die Restaurants, in denen er früher verkehrte, er hat keine reale Aussicht auf einen Job mit gesichertem Einkommen, Urlaub ist keiner drin. Er wurschtelt sich halt durch, würde auch gerne mal nach Mallorca fliegen, "man hat ja noch seine Träume".

Was er mit verhaltener, kaum hörbarer Stimme erzählt, ist ein Bild von Armut, das kaum erzählt wird, das nicht ins übliche Bild der "wirklich" Armen paßt. Kommt Herr S. im Alltagsdenken der Wiener vor, wird er wahrgenommen, wird sein Leben irgendwo inszeniert, in Architektur sichtbar, kommt er in der Dramaturgie der öffentlichen Räume vor?

Diesen Fragen ging eine Veranstaltung der Evangelischen Akademie in der Reihe "Urban Story Telling" nach. Was bedeutet "Erzählung" in diesem Zusammenhang? Eine Erzählung ist eine Dramaturgie, eine relativ einfache, beinahe archaisch strukturierte Geschichte, die für Konsumenten etwa eines Freizeitparks oder eines Einkaufszentrums inszeniert wird. So begibt man sich für kurze Zeit in ein "Märchenland", um bald darauf in einen Techno-Laden oder ein "Klein-Venedig" zu gehen. Menschen können sich kurzfristig in solche Erzählungen hineinbegeben und dort die Szenarien kurzfristig nachleben, sie dann aber wieder verlassen; das alles zu einem Zeitpunkt und in einem Zeitraum ihrer Wahl.

Warum scheint dies zunehmend für Menschen interessant zu werden, warum wird das kommerziell in Einkaufparks, aber sogar in Wohnbereichen und auf öffentlichen Plätzen genutzt? Die Identitäten werden immer weniger über traditionelle Kategorien wie etwa Zugehörigkeit zu einer Religion, einer Schicht oder einer Partei gebildet und auch nicht so von den Leuten selbst verstanden. Für die Menschen in der urbanen Erlebnisgesellschaft werden zunehmend flexible Identitäten, die man auch wechseln kann, sinnvoll; ästhetische Kategorien, Markenbindungen (und sei es nur die Kopie einer Kleidungsmarke), verschiedene Arten von Spannung oder Genuß sind dabei wichtig. "Ich bin Vegetarier, Inline-Skater, Träger von ..." tritt als Beschreibung der eigenen Identität stärker an die Stelle klassischer Selbstbeschreibungen wie "Ich bin Vater, evangelisch, Mitglied dieser Partei und jener Gewerkschaft, arbeite da ...".

Nun brauchen aber gerade solche Menschen Sinnstiftungsszenarien, die ihre flexiblen Identitäten reflektieren, nach- vielleicht auch vorspielen, so sagt der Marketingpsychologe Christian Mikunda. Umfassende Sinnstiftungsgebäude werden nicht mehr angeboten; die "große Erzählung", wie sie etwa das Christentum oder der Marxismus anboten, ist, wenn man postmodernen Kulturphilosophen glauben mag, zu Ende. An ihre Stelle treten pragmatische Erzählungen, kleinste Geschichten, die vor allem kommerziell vermittelt werden.

Worin liegt aber die Sinnstiftung dieser Szenarien, wie wird sie kommuniziert? Was bewirken Themenparks, aber auch themenorientierte Wohnanlagen wie "interkulturelles Wohnen", autofreies Wohnen, Öko-Wohnprojekte, Frauenwerkstatt? Was kann es heißen, wenn sich eine Stadt als Ganzes mit Images und inszenierten Geschichten bewußt auflädt? Wenn das Inszenatorische tatsächlich so wichtig ist, wie steigen dann die aus, die das Potential zur Inszenierung nicht mitbringen? Die Vermutung ist, daß die Armen diese Möglichkeit nicht haben, als Objekte, aber auch als Teilnehmer solcher Szenarien uninteressant sind.

In diese Richtung argumentiert auch Jens Dangschat, Soziologe am Raumplanungsinstitut der TU Wien, der sich seit längerem mit Armut in der Großstadt und Gestaltungsmöglichkeiten vor allem auf Bezirksebene beschäftigt. "Es geht nicht um das Vergessen, sondern daß die Augen zugehalten werden", so Dangschat. "Die Armen tauchen in der städtischen Erlebnisgesellschaft in unserem Angesicht nicht auf. Seit biblischen Zeiten schon haben wir sie nie ausgehalten." Die ungehörte Armut ist eine unerhörte Armut, weil sie auch nicht so lautstark ist.

Allerdings, könnte man hier einwenden, gibt es Orte, an denen Arme sehr wohl vorkommen: "Das Männerheim ist einer der düstersten Orte, die den Abscheu, den Ekel und die geheimen Todeswünsche widerspiegeln, mit denen die Gesellschaft ihren Außenseitern begegnet", schreibt Gerhard Roth in "Eine Reise in das Innere von Wien". Der Bahnhof ist traditionell so ein Ort, viele Gasthäuser und Kaffeehäuser sind noch Orte, wo die Alten, die Meschuggenen, die Erwerbslosen sich aufhalten. Aber natürlich, das ist keine öffentliche oder kommerzielle Inszenierung, im Gegenteil: Bahnhöfe werden zunehmend zu armenfreien Zonen gemacht, zu Arealen, die nur mit Fahrkarte oder einkaufswilligem Geldbörsel betreten werden können.

Ganz anders argumentiert Martin Schenk von der Diakonie Österreich, SOS-Mitmensch-Aktivist und Mitorganisator der Armutskonferenz: Er stellt eine Zwangsdiskursivität fest, bei der die Armen zu Idolen gemacht werden, als moralische Objekte der Gewinner der Gesellschaft. In einer Art Mystifizierung werden vor allem im theologischen Diskurs "die guten Armen" beschworen, die sich erheben, oder aber es geschieht - vor allem im Fernsehen - eine Ästhetisierung der Armen: Die Welt ist wie sie ist, eine ethische Reflexion dieses Zustandes wird aber verweigert.

Die Macht des Bildes besteht auch darin, daß "Armut und Elend viel schöner zu filmen ist als Reichtum", meint die Regisseurin der "Alltagsgeschichten", Elisabeth Spira. Sie stellt Heimatfilme dar, zeigt also Orte, die für jeden etwas bedeuten, spricht an diesen Orten mit Menschen, die das Gefühl haben, verloren zu sein, die von Entsolidarisierung betroffen sind. Natürlich sei man Voyeurin, wenn man mit Menschen und Schicksalen zu tun hat und hinter der Kamera steht, aus dem Off Fragen stellt, die Menschen zum Singen oder Schwadronieren bringt, auch ihren Alltagsfaschismus zeigt, Geschichten kommentiert, so Spira.

Auch diese Fernsehgeschichten sind inszeniert, bringen ihre eigene Dramaturgie am Würstelstand, am Bahnhof oder sonstwo mit und vermitteln so einem großen Publikum wenigsten einen Einblick in die Welt der sogenannten Ausgegrenzten. "Wenn man nicht mehr von den Armen redet, in der Politik, der Wissenschaft, der Stadtplanung, so sind sie weg", meint Jens Dangschat. Der sozialwissenschaftliche Diskurs ist unverzichtbar, um die Ursachen der Armut, die in der Regel ja struktureller Natur sind, aufzuzeigen. Das ist auch der wesentliche Beitrag etwa der Armutskonferenz oder auch des Armutsberichts des Sozialministeriums, der einen wesentlichen Fortschritt in der offiziellen Wahrnehmung der Armut darstellt: Aufklärung, woher die Armut eigentlich kommt.

Hier liegt die wesentliche Rolle der Fürsprecher, die in den Wohlfahrtsorganisationen, in der Armutskonferenz, in den Sozialstellen der Länder und Kommunen sitzen. Doch genauso wesentlich ist die Rolle der "Selbstsprecher" ((c) Martin Schenk), die aus der Armutsbevölkerung selbst kommen und die Fähigkeit mitbringen oder erwerben, sich auch öffentlich Räume zu schaffen oder gegebene zu nutzen. Sicherlich werden sie sich in den seltensten Fällen selbst als "arm" definieren, wohl auch nicht als "Ausgegrenzte", eher schon als "Eingegrenzte", die nicht dieselben Möglichkeiten wie die Mehrheitsbevölkerung haben. "Mobilisierung erfolgt nicht über die Definition eines Mangels", meint Schenk.

Eher wirksam ist ein Blickwechsel und das Aufmachen von Räumen, wie etwa das Jugendprojekt ECHO oder die Stadtzeitung der Wohnungslosen, der "Augustin", eindrucksvoll zeigen. Hier wird die Gesamtproblematik im besonderen sichtbar, erlebbar und nachvollziehbar. Eine Weiterentwicklung dieser Möglichkeiten wäre Einbeziehung in die Bezirksplanungen und die Raumplanungen der Stadt und ihrer Imagebildung.

Der Autor ist Leiter der Evangelischen Akademie Wien.

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