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Verzweiflung im Niemandsland

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Von Jahr zu Jahr werden es mehr, die sich in ihrer Ratlosigkeit, Bedrängnis oder gar Verzweiflung an die Telephonseelsorge wenden und Rat und Hilfe erbitten. 1973 waren es in der Bundesrepublik noch rund 200.000 Anrufer; in diesem Jahr werden es bereits mehr als eine halbe Million Menschen sein, die zureichende Antworten und Hilfen über das Telephon erhalten wollen. Ungezählten konnte und wird dabei geholfen werden. Für andere wiederum kam und kommt jede Hilfe zu spät. Dabei ist die Telephonseelsorge nur ein — wenn auch sehr bedeutsamer — Teilbereich des Beratungswesens.

Wie es scheint, brauchen die Menschen in unserer technisch-zivili-sierten Welt, wegen der wachsenden Vielfalt der Probleme, immer häufiger Ratschläge und Hilfen von außen. Einzelgrünide hiefür sind:

Vereinsamung durch oftmals selbstgewählte Isolierung, insbesondere bei Alten, Kranken oder sozial Schwachen, Orientierungslosigkeit und ausgeprägte Kontaktschwäche. Anderseits erstreckt sich das Beratungswesen aber auch in die Bereiche der Erziehung, der Ehe und der Familie, der Schule und des Berufes, um nur einige anzuführen. Genau besehen, erfassen die inzwischen geschaffenen privaten und öffentlichen Beratungsdienste nahezu alle Lebensbereiche, von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter.

Mit dem Themenkomplex: ,,Neue Trends und Perspektiven des Beratungswesens“ beschäftigten sich in Würzburg kürzlich mehr als 300 Wissenschaftler — darunter Psychologen, Theologen, Pädagogen, Mediziner — und Praktiker aus mehr als 44 Ländern der Welt, darunter auch eine Delegation des Vatikans. Die

7. Internationale Konferenz der IRTAC (International Round-table for the Advancement of Counselling, London — zu deutsch: Internationales Rundgesprfich zur Förderung der Beratung) war zusammen mit der Hanns-Seidel-Stiftung und dem Psychologischen Institut I der Universität Würzburg veranstaltet worden. Die IRTAC übt sowohl beim Europarat in Brüssel, als auch bei der UNO in New York beratende Funktion aus.

Aber wo sind die Grenzen einer sinnvollen Beratung des Mitmenschen? So ist es doch in jedem Fall zu vermeiden, daß sich der Ratsuchende ausschließlich auf seinen Ratgeber verläßt; der Berater also zu einer Art von ,JSchicksdlsgestal-ter“ wird. Vielmehr muß durch die Beratung erreicht werden, daß der Betroffene in seinen Entscheidungen selbständig wird. Keinesfalls darf

der Berater auch eine Art „Alibifunktion“ für die vorgefaßte Entscheidung des Hilfesuchenden übernehmen.

Welche Bedeutung der Würzburger Psychologenschule zukommt, hatte Professor Arnold in seinem vielbeachteten Fachvortrag hervorgehoben: Hier sei nämlich die Methode der psychologischen Selbst- und Fremdbeobachtung entwickelt und Grundlagenforschung in der Denkpsychologie erfolgreich betrieben worden.

Das Verhältnis von Erbanlagen und Umwelteinflüssen bezeichnete der Psychologe als Angelpunkt jeglicher Beratung; hierauf baue auch das Lernen auf und die Erziehung. Die sogenannte „Machbarkeit des Menschen“ werde letztlich von den vorhandenen Erbanlagen bestimmt, der Einfluß seitens der Umwelt komme erst an zweiter Stelle. Arnold meinte dazu wörtlich: „Wo keine Fähigkeiten sind, nützt das beste schulische Mühen nichts.“ Im übrigen bedürfe jede Personendiagnose einer ganzheitlich orientierten Persönlichkeitssicht. Gera-

dezu erschreckend war aber seine Feststellung, daß der Anteil der. psychisch Gestörten (Neurotiker) in den letzten Jahren die 50-Prozent-Grenze erreicht habe. Das bedeutet: Jeder Zweite weist neurotische Züge auf.

Auf Fragen der Telephonseelsorge und Schwangerenberatung eingehend, erklärte Arnold, daß gestrandete, hilfsbedürftige Menschen sich nicht selten gegen persönlichen Rat sperrig zeigten. Dennoch suchten sie aber die persönliche Begegnung, und das Telepho-nieren sei dabei nur der erste Schritt. Nicht selten sei es der „menschliche Aufschrei aus Existenznot“, der dabei hörbar werde. Es sei dies schließlich nichts anderes als der Ruf nach Vertrauen, Güte und Verläßlichkeit. „Wenn Kinder und Jugendliche spüren, daß sie von ihren Eltern, speziell von der Mutter, nicht angenommen werden, stehen sie im Niemandsland und in der Verzweiflung an sich selbst.“

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