"Alle sind gleich, manche sind gleicher"

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Das Engagement für größere Gruppen und soziale Verbände, wie es das Konzept der Bürgergesellschaft vorsieht (siehe Furche-Dossier 36/99), erfordert entsprechende Fähigkeiten zur Kommunikation und Lösung von Konflikten.

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Das Engagement für größere Gruppen und soziale Verbände, wie es das Konzept der Bürgergesellschaft vorsieht (siehe Furche-Dossier 36/99), erfordert entsprechende Fähigkeiten zur Kommunikation und Lösung von Konflikten.

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Wenn fast wöchentlich die Schlagzeilen der Tageszeitungen Gewalttaten in der Familie, insbesondere sexuelle Mißhandlungen von Kindern berichten, beginnen sogar die Glorifizierer des Mythos von der Geborgenheit spendenden Familie diese Autosuggestion zu bezweifeln.

Dann spalten sich die parteipolitisch berufenen Problemlösungsexperten: die einen bekennen sich zum "Einsperr'n", möglichst lebenslang, fordern mehr Kontrolle und meinen diese mittels Anprangerung zu gewährleisten. Sie besinnen sich damit auf die Methoden des Mittelalters. Die anderen gehen noch weiter zurück: in die Zeit der Stammesgerichtsbarkeit, als noch im Rat der Ältesten beratschlagt wurde, was mit den Missetätern zu tun wäre, die die Friedensordnung gebrochen hatten. Derartige soziale Konfliktlösungen kenne ich nicht nur von den Germanen, sondern auch aus dem afrikanischen und indianischen Kulturkreis. Ich kenne sie auch aus amerikanischen Gemeinwesenprojekten der siebziger Jahre; sie haben nicht nur mich, sondern auch Kollegen wie den damaligen Leiter des Sozialtherapeutischen Instituts der Stadt Wien, den Psychoanalytiker Harald Picker, angeregt, stadtteilbezogene Großgruppenkonfliktlösungen zu wagen.

Als ich Mitte 1977 vom damaligen geschäftsführenden Obmann des Vereins Jugendzentren der Stadt Wien, Peter Reinelt, engagiert wurde, ein Gemeinwesenarbeitsprojekt zu konzipieren - den "Club Bassena", der von mir zuerst in der Per-Albin-Hansson-Siedlung-Ost aufgebaut, weiters im Jugendzentrum Alsergrund (übrigens in Kooperation mit dem damaligen Hausleiter Andreas Rudas!), dann Am Schöpfwerk und zuletzt im Wrba-Hof am Wienerfeld initiiert und begleitet wurde, waren mir Negativerfahrungen aus der Großfeldsiedlung bekannt: wachsende Unzufriedenheit neuzugezogener Jungfamilien - teure Mieten, Einrichtungsschulden, dazu ein "Fresser" mehr, ein Gehalt weniger, mögliche Unterstützung durch Freunde und Familie weitentfernt - mündeten nur allzuoft in aktionsbereite Aggressivität oder, im Gegenteil, in Depressivität, oft auch selbstzerstörerischem Verhalten.

Gemeinwesenarbeit ist nicht, wie manche Laien meinen mögen, ehrenamtliche Betätigung in Nachbarschaftshilfe, Naturschutz oder Kulturpflege. Gemeinwesenarbeit ist professionelle Prozeßbegleitung, um in Beziehung die Bedürfnisse - nicht den Bedarf! und auch nicht mittels einer Studie! - von Menschen in regional überschaubarem Wohnumfeld zu erheben, Gruppenbildungen zu fördern, partnerschaftliche Kommunikation vorzuleben, Konfliktlösungen gemeinsam zu erarbeiten, und überdies zu Eigenaktivität zu motivieren, beispielsweise die nötigen Informationen zu organisieren.

Unlust & Aggression Die durch professionelle Gemeinwesenarbeit aufgebaute und unterstützten Bürgeraktivitäten unterscheiden sich wesentlich von der Organisationskultur in Vereinen: es wird nicht auf Verpflichtung zu zeitlich fixierter, hierarchisch strukturierter - vertikaler - Aufgabenverteilung hingearbeitet und mit Titeln oder öffentlicher Exhibition - und wenn es nur der "Jahresbericht" ist - "belohnt", sondern in partnerschaftlicher - horizontaler - Kommunikation um die Erarbeitung von Konfliktlösungen gerungen.

Was nämlich bei all den Diskussionen um Bürgerbeteiligung, Bürgersolidarität, Bürgergesellschaft immer vernachlässigt wird, ist die in jedem Fall auftretende Gruppendynamik.

So schrieb der Architekt Wolfgang Förster, der im Rahmen des Instituts für Höhere Studien basisdemokratische Prozesse erforschte, 1987 in seinem "Bürgerinitiativen-Brevier" (Orac): "In jeder Gruppe treten früher oder später auch gruppendynamische Probleme auf. Herr X und Frau Y "können" einfach nicht miteinander, Herr Z redet zuviel Unsinn, außerdem fühlt sich Frau M von ihm dauernd übergangen und überhaupt nicht ernst genommen. Was können Sie gegen solche Probleme tun? Nichts! Außer darüber reden: Denn das Schlimme daran ist ja, daß solche Differenzen kaum jemals offen geäußert werden (wir sind eben nicht dazu erzogen, Gefühle anderen offen mitzuteilen), geschluckt werden, sich aber recht bald in Unlust oder Aggression ausdrücken."

"Loch in der Seele" Es braucht einige Zeit, bis die Personen "enttarnt" sind, die für konstruktive Problemlösungen, bei denen es ALLEN gut geht, Begabung beisteuern. Erfahrungsgemäß sind das genau diejenigen, die sich nach der ersten Phase der Gruppenbildung in die Gemeinschaft hineinreklamieren und hervorragende Aufgaben übernehmen wollen: * im Unfrieden geschiedene Mitarbeiter/innen politischer Parteien oder parteinaher Einrichtungen, die eine Chance wittern, ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl zu rehabilitieren: * Personen im Energieungleichgewicht. Das sind einerseits diejenigen, die mit ihrer überschießenden Aktivität andere verschrecken, andererseits diejenigen, die sich jammernd Energiezufuhr für ihr "Loch in der Seele" erhoffen: * Personen, die sich selbst fehl ein- oder einfach überschätzen. So erinnere ich mich, daß von den rund achtzig Personen, die sich Anfang der achtziger Jahre auf die Aktion "Der soziale Bürger" (die der damalige Gesundheitsstadtrat Universitätsprofessor Alois Stacher ins Leben gerufen hatte, damit soziale Dienstleistungen in Privatinitiative ausgetauscht werden könnten) in der "Stamm-Bassena" gemeldet hatten, nur etwa zehn physisch und psychisch belastbar genug waren, anderen Hilfestellung zu bieten. Die große Zahl war selbst extrem hilfsbedürftig bis körperlich, seelisch oder sozial behindert, aber gutmütig bereit, irgendetwas für andere Bedürftige zu tun - die Schwierigkeit war nur, dieses maßgeschneiderte Etwas zu entdecken! Sobald eine "Gruppe" gefestigt ist, "trägt" sie diese meist liebenswerten, dennoch betreuungsbedürftigen Hilfswilligen im Sinne der "holding function". Nur: es reagieren sofort die eher zwanghaft auf "Leistung" - egal, zu welchem Zweck - Fixierten und fühlen sich von den "Minderleistern" in ihrem Erfolgsstreben behindert.

Es ist sozialutopisch zu glauben, es bildeten sich nicht in jeder Ansammlung von Menschen so wie in George Orwells "Farm der Tiere" ebensolche "Napoleone" heraus, gemäß dem Motto: "Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher!" Um die Dynamik von sozialer Kreativität, Handlungsfreude, Konkurrenz, Rivalität, Entmutigung, Rückzug, Wegbleiben nicht in den üblichen Verdrängungswettbewerb oder gar Mobbingprozesse ausarten zu lassen, bedarf es dieser hochqualifizierten Gemeinwesenarbeit: sie umfaßt Elemente der Animation, der Erwachsenenbildung, der Sozialarbeit, der Mediation, der Psychotherapie ohne einem dieser Basisberufe annähernd zu gleichen.

Als ich von 1990 bis 1992 an der Universität für Bodenkultur Gemeinwesenarbeit für Landschaftsplaner/ innen unterrichtete, drittelte sich die Schar der Student/innen: eine Gruppe wollte nur theoretisch diskutieren, die zweite praktische Erfahrungen mit Bedürfnis- und Bedarfserhebungen als Vorstufe von Planungsprozessen machen und die dritte primär ihre kommunikative Kompetenz verbessern. Nachdem sich die beiden letzteren Gruppen auf eine konkrete Befragungsaktion geeinigt hatten, zeigten sich deutliche Berührungsängste gegenüber der Bevölkerung - aber auch umgekehrt. "Wer sind sie?", "Was wollen die", "Was machen die mit uns?"

"Stamm-Bassena" Dieselben Fragen erlebte ich beim Aufbau der Kommunikationszentren "Club Bassena". Als sich in der "Stamm-Bassena" in der Per-Albin- Hansson-Siedlung-Ost Mütter gegen die industrielle Nutzung samt LKW-Ausfahrt gegenüber der Volksschule verbündeten, sagte mir - damals selbst Bezirksrätin und Landtagskandidatin in Wien - eine Gemeinderätin empört: "Das geht doch nicht, daß die Leute gegen uns agitieren - in einer Einrichtung, die wir finanzieren!"

Genau diese Reaktion kann man auch bei Eltern beobachten, wenn ihre Kinder ihnen Widerstand leisten. Oder bei der Lehrerschaft, Ärzteschaft, auch bei manchen Psychotherapeut/innen. Die Reife einer Kultur ersieht man an ihrem Umgang mit dem Widerstand. Dieser Satz stammt, glaube ich, von Herbert Pietschmann. Ich formuliere: an ihrem Umgang mit dem Anderen (vgl. meinen Essay "Scham macht krank" aus 1991). Nur der respektvolle Umgang mit dem, der etwas anderes wahrnimmt, denkt, fühlt, hilft mir, ihn besser zu verstehen. Dann erst kann ich mich in Beziehung setzen.

Jahrhundertelang war dieser Grundsatz devote Verpflichtung von unten nach oben. Vor allem Frauen wurden dazu erzogen, "bottom up" zu dienen. Männer hingegen unterlagen dem Zwang, "top down" herrschen zu sollen. Dies ist eine der Wurzeln der familiären Gewalttätigkeiten. Wir können diese Phänomen aber überall beobachten, wo jemand Sieger sein will.

Spielregeln brechen Gemeinwesenorientierte Gewaltprävention appelliert nicht an "Zivilcourage" und strebt auch nicht nach "Reprivatisierung" von Aufgaben, die an die Staatsmacht delegiert wurden. Sie propagiert, sich mit dem Anderen in Beziehung zu setzen.

Auf Miß-Handlungen bezogen, bedeutet diese Idee folgendes: wer sich außerhalb der Gemeinschaft stellt und deren "Spielregeln" bricht, ohne sie verbal in Frage zu stellen, ohne Konfliktgespräche zu wagen, ohne Verbesserungsvorschläge zu denken, dessen Beziehungsfähigkeit ist nicht positiv entwickelt.

Im Sinne homöopathischer Heilung kann, wer Beziehung als Schaden lebt oder erlebt, nur durch salutogene - leibseelischgeistiges Wohlbefinden erzeugende, wie es der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO gemäß der Ottawa-Charta aus 1948 entspricht - Beziehung gesunden. Diese ist Vorbild, Anreiz zum Erwerb dieser sozialen Kompetenz und Heil-Mittel zugleich.

Die Autorin ist promovierte Juristin, Diplomerwachsenenbildnerin und Psychotherapeutin. Sie leitete von 1977 bis 1986 das generationsübergreifende Gemeinwesenprojekt "Club Bassena" im Verein Jugendzentren der Stadt Wien.

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