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Justitia mit der Apothekerwaage?

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Schaurig krächzt der Totenvogel vom Galgengerüst. Gestern haben sie ihn gerichtet! Aber schon voriges Jahr ging das Geraune: das ist der Täter! Denn wer sonst als er, der die Mordtat beging, wagte sich zu nächtlicher Stunde zum Tümpel, wo sie hinter Binsen und Moder die schöne Magdalen gefunden hatten. Aug um Auge, Zahn um Zahn, Strick um Strick — und die Dörfler bekreuzten sich in ihren Betten, als der Nachtwind das Rachegekrächz von der Richtstatt zu ihren Hütten trug, wo die dürren Schindel klapperten

Vorbei die Zeit der Aengste, Schuld und Sühne! Kein Totenvogel schreckt mehr unseren Schlummer, kein Gewissenswurm nagt und treibt zum Weiher, zum ruchlosen Tatort: Schuld und Sühne — mit mildem „Verstehen“ hat unsere neue Gesellschaftsordnung sie ausgestrichen und an die Stelle der Vergeltung die — Kur gesetzt. Wohl hält Justitia nach wie vor die Waage — aber sie mißt nicht mehr Schuld und Strafe zu, sondern wiegt Medikamente, Arznei, Pillen und Tropfen. An Stelle der „barbarischen mittelalterlichen" Strafjustiz tritt — in unserem Falle etwa des Lustmörders — die „medikamentöse Behandlung des Sexualverbrechens“, an Stelle der „sinnlosen mittelalterlichen Einschließungen" die „von allen feindseligen Methoden befreite Behandlung des Verbrechers dun.h ein Team von Psychologen,

Pädagogen, Sozialarbeitern und Aerzten", mit dem Ziele der „Stärkung seines Willens und seiner Achtung vor der Rechtsordnung“.

Ausgehend von der Feststellung, daß heute in Oesterreich angeblich 40 Prozent der strafmündigen männlichen Bevölkerung vorbestraft seien, und dem kühnen Schluß daraus, dieses unheimliche Bild beweise das Versagen der traditionellen Strafrechtspflege, schöpft eine „fortschrittliche“ Schulmeinung die Berechtigung zu einem, wie sie selbst sagt, radikalen Umdenken, das einen besseren Schutz der Gesellschaft als bisher verheißt, weil durch die neuen Methoden, und nur durch sie, Gewähr geboten werde, daß die asozialen Elemente weitgehend in den Schoß der Gesellschaft zurückgeführt werden können.

Zum Stoßtrupp dieser Reform wurde jene Berufsgruppe auserkoren, die heute mehr als irgendeine Berufsgruppe auf Gehör und auf Glauben rechnen kann: die Aerzteschaft! Auf der Salzburger Tagung der österreichischen Justizärzte wird der Startschuß gelöst, auf daß die bisher Tauben, die Skeptiker,' mit dem Vokabular der „neuen Idee" vertraut gemacht werden; gilt es doch, den breiten Massen Begriffe, wie „Tat-Recht" und „Täter-Strafrecht“, Vergeltungsstrafrecht und Resozialisierung, mundgerecht zu machen. Der Entwurf für das neue, auf diesen Theorien fußende Strafgesetz ist — so wird verkündet — bereits fertiggestellt,

die Ausarbeitung einer neuen Strafprozeßordnung und eines Strafvollzugsgesetzes stehen bevor. Nun gilt es noch, diese gewaltige Neuerung zu rechtfertigen und parlamentarisch unter Dach und Fach zu bringen.

Ich möchte mich an dieser Stelle — obwohl es nicht ohne Reiz wäre, Einzelthesen herauszugreifen und kritisch unter die Lupe zu nehmen — auf einige wenige Allgemeinbemerkungen beschränken, die sich bei der Lektüre, etwa des Vorberichtes zur obgenannten Justizärztetagung, den die Presse mehr oder weniger ausführlich brachte, auf drängen: Es ist nämlich keineswegs so, wie aus meiner Diktion geschlossen werden könnte, daß ich der ganzen Reform ablehnend gegenüberstünde, denn der Gedanke der Humanität und der Besserung ist zu hoch und kostbar, um ihn nicht auch im Gewände einer Uebertreibung anzuerkennen. Die Hauptsorge ist vielmehr die, daß hier offenbar Grundelemente der jnenschlichen Natur mißverstanden und beiseite geschoben werden sollen! Schuld, Sühne, Strafe — diese Begriffe sind nun einmal nicht bloße Erfindungen des finsteren Mittelalters oder der katholischen Kirche, und die von den modernen Strafrechtswissenschaftlern gestellte Frage „Warum Strafe?“ ist nun einmal nur möglich, wenn man diese Grundgegebenheiten der Menschennatur übersieht.

Wer daher an jene Probleme, mit denen die Menschheit seit ihrem ersten Tag gerungen hat, die das Thema der Weltgeschichte bilden, um die alle großen Werke der Geister und Genies kreisten — ich nenne nur Dostojewskij als einen unter ungezählten — und die sie, freilich immer irrend und suchend, auf ihre jeweilige Weise zu lösen versucht hat, bisher aber immer letzten Endes unter Bedacht auf die Grundelemente: Schuld und Sühne, Sünde und Strafe, Vergeltung und Erlösung —, wer also, an die Lösung dieser Urfrage mit den Mitteln der pharmazeutischen Erkenntnisse über die Auswirkungen ge-

wisset Stoffe auf das Nervensystem und das Seelen- bzw. Triebleben herangejit und daraus der Gesellschaft das Heil verspricht, der muß ein großes Maß von Unkenntnis der Menschennatur besitzen! Aber nicht nur der Menschennatur: auch der Soziologie! Oder kann man sich eine geordnete Gesellschaft denken, die darauf verzichten würde, daß die ihren einzelnen Gliedern zugefügten Unbillen wiedergutgemacht werden? Und gibt es eine Wiedergutmachung ohne Strafe? In Extremfällen gibt es das — aber die Praxis, das tägliche Leben, zeigt im allgemeinen das Gegenteil. Wo das natürliche Verlangen nach Vergeltung künstlich oder, richtiger gesagt, gewaltsam unterdrückt wird, da bricht es über kurz oder hng elementar hervor und zerstört seine Unterdrücker.

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