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Neues Strafrecht in Argentinien

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Am 1. April trat unter der formelhaften Bezeichnung „Gesetz Nummer 17.567” die argentinische Strafrechtsreform in Kraft. Da der „Präsident” Generalleutnant J. C. Ongdnia sie in Ausübung der „gesetzgebenden Gewalt”, die durch das Revolutionsstatut auf ihn übertragen wurde, dekretiert hat, läge es nahe, in ihr Merkmale des totalitären politischen Strafrechtes zu suchen. Aber auch in diesem Falle zeigt sich wieder, wie wenig die schematische Gegenüberstellung diktatorischer und demokratischer Rechtsprinzipien auf die lateinamerikanische Realität paßt.

Dr. Sebastian Soler, der Präsident der dreiköpfigen Juristenkommission, die den Entwurf zu der Reform vorlegte, betonte vielmehr in Presseerklärungen, daß die „liberale Tradition” des argentinischen Strafrechtes wiederhergestellt würde. Nach seiner Darstellung wurde siie in den pero- nistischen Gesetzesänderungen verfälscht, in denen — nach totalitärer Rechtsauffassung — jedes Delikt, ob Mord oder Mundraub, ohne Rücksicht auf das verletzte „Rechtsgut” in erster Linie als Herausforderung der Staatsautorität gewertet wurde.

So ist nach der Reform die Strafdrohung weit mehr als bisher der Bedeutung der Straftat und der Persönlichkeit des Täters angepaßt. Das „kleine Delikt” und der „Gelegenheitstäter” werden weit mehr als bisher von der schweren Straftat und dem „Berufsverbrecher” unterschieden. So ist die Strafdrohung für den ersten Rückfall um ein Drittel gesteigert, während sie bei dem dritten verdoppelt wird. Die abschreckende Wirkung der Strafdrohung für den Berufsverbrecher wird weiter dadurch erheblich gesteigert, daß er die gefürchtete „Sicherheitsverwahrung auf unbestimmte Zeit” riskiert, wenn er dreimal zu Gefängnisstrafen (von mindestens drei Jahren) verurteilt wird.

Rowdytum im Kollektiv

Die Todesstrafe wurde im Jahre 1921 abgeschafft. Mord wurde mit Gefängnis zwischen 8 und 25 Jahren bestraft. Nach der jetzigen Reform wird lebenslängliche Freiheitsstrafe nicht nur bei vorsätzlicher Tötung naher Verwandter angedroht, sondern auch, wenn die Tat aus „rassischen oder religiösem Haß” oder „in Gemeinschaft von zwei oder mehr Personen” begangen wird. Dieses Tatbestandsnuerkmal weist auf eines der wichtigsten Phänomene der lateinamerikanischen Kriminalität hin, die sogenannten „Patotas”. Morde, Raubüberfälle und Vergewaltigungen werden häufig von Gruppen — oft Halbwüchsiger — begangen, deren einzelne Mitglieder oft eine erstaunliche Feigheit zeigen, während sie als „Kollektiv” zu Akten alarmierender Brutalität fähig sind.

Abtreibungen: Augen zu…

Die lateinamerikanische Mentalität zeigt sich aber auch bei den Strafmilderungsgründen. So’ist das Strafmaß weit herabgesetzt, wenn die Tötung in begreiflicher Erregung begangen wurde, wobei als Beispiel die des in flagranti bei dem Ehebruch überraschten Partners genannt wird, oder, wenn es sich um den Mord an dem neugeborenen Kinde, „um die Unehre zu verbergen”, handelt. Weiter ist die groteske Situation beseitigt, daß die Abtreibung einer höheren Strafdrohung unterlag als der Kindesmord. Der „illegale Abortus” bleibt strafbar, in der Praxis wird er wie bisher „übersehen”. Im Jahre 1966 wurden acht Fälle der argentinischen Strafjustiz denunziert, in denen Frauen an den Folgen grob fahrlässiger unzureichender Eingriffe starben, während — nach den Angaben auf einem kürzlichen wissenschaftlichen Kongreß — die Zahl der Abtreibungen in Argentinien auf jährlich 200.000 geschätzt wird.

Stückwerk, wenn nicht…

Es bleibt abzuwarten, ob die Flut der Wirtschaftsdelikte dadurch eingedämmt wird, daß der Tatbestand der Untreue erweitert wurde und ein ständiges Berufsverbot gegen Professionelle angedroht wird, die Delikte in Ausführung ihrer Tätigkeit begehen. Auch will man — theoretisch — die Betrüger hindern, nach dem Verbüßen der Strafe gut von dem Ertrag ihrer Straftat zu leben, indem alle „Gewinne” aus strafbaren Handlungen in Form zusätzlicher Geldstrafen eingezogen werden.

Von großer Bedeutung für das politische und private Leben in Argentinien ist weiter, daß die Tatbestände für die Ehrverletzung jetzt so formuliert werden, daß man nicht mehr Freiwild aller Verleumder bleibt.

Die Strafrechtsreform bedeutet einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einem modernen Staat. Man ist sich aber in der argentinischen Öffentlichkeit darüber einig, daß sie Stückwerk bleibt, wenn die Korruption in der Strafjustiz, die Willkür in der Polizei und die Verwahrlosung im Gefängniswesen, die in aktuellen Skandalfällen aufgedeckt werden, nicht gleichzeitig beseitigt werden.

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