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Mit Großvater zusammen

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Mehr als 500.000 Forint hat Istvän B. für seine „neue“ Wohnung an den Vorbesitzer bezahlen müssen. Er bekam für diesen stattlichen Betrag eine total renovierungsbedürftige Drei-Zimmer-Altwohnung in einem baufälligen Jugendstilhaus, in der Nähe des Budapester Lenin-Ut. Obwohl fast 130 Quadratmeter groß, verfügt die Wohnung weder über ein Badezimmer, noch über eine funktionierende Heizung. Noch einmal 100.000 Forint wird Istvan B. ausgeben müssen, um menschenwürdig wohnen zu können — und das bei einem ungarischen Durchschnitts-Monatseinkommen von 4000 Forint!

Dieses Bild aus dem Wohnalltag unseres östlichen Nachbarn mag auf den ersten Blick erschrecken. Dabei rangiert Ungarn keineswegs am unteren Rand der Wohnstandard-Skala im Ostblock, obwohl die äußeren Anzeichen sehr dafür sprechen. Die Zeitung „Magyar Hirlap“ schätzt,

daß es in Budapest allein über 300.000 „Bettgeher“ gibt, also Personen, die nicht einmal über ein Untermietzimmer, sondern lediglich über eine Schlafstelle verfügen, die sie oft noch mit anderen „Bettgehern“ teilen müssen.

„Es passiert sehr oft“, schreibt die Zeitung, „daß ein Vermieter das Bett nachts an den einen, tagsüber an den anderen Bettgeher vermietet. Dafür müssen rund 300 Forint bezahlt werden.“ Die Mieten der Wohnungen betragen allerdings selten mehr als 10 Forint. Ein gutes Geschäft ...

Der Staat kann diesen Verdienst kaum einschränken oder verbieten. Die einzige Vorschrift, die es gibt, besagt, jeder Mieter müsse mindestens sechs Quadratmeter Raum zur Verfügung haben. Aber oft genug wird auch diese Regel nicht beachtet.

Welche Ursachen hat nun die im Ostblock als sichtbarstes soziales Übel auftretende Wohnungsmisere?

Einerseits befinden sich zahlreiche alte Häuser in Privathand. Aber die Besitzer dürfen keine kostendeckenden Mieten verlangen. (Für 100 Quadratmeter Altbauwohnung 30 Forint Zins, in Bulgarien und Rumänien sind die Mieten ähnlich niedrig). Die Handwerkerstunde kostet aber auch im Osten schon 20 bis 25 Schilling, falls man überhaupt Handwerker bekommt.

Noch mehr verfallen Althäuser, die sich in Staatsbesitz befinden, da hier überhaupt kein Erhaltungs-Interesse und keinerlei Initiative besteht.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten sind die kommunistischen Regime heute eher daran interessiert, den Bau von neuen Eigentumswohnungen zu forcieren, statt selbst bauen und dann zu ruinösen „Sozialpreisen“ vermieten zu müssen. Das bisherige Scheitern dieser Idee erklärt sich durch den Material- und Arbeitskräftemangel und durch schlechte Organisation auf der einen, durch die mangelnde Kapitalskraft der „Werktätigen“ auf der anderen Seite.

Das Acht-Millionen-Land Bulgarien will 1975 68.000 neue Wohnun-

gen errichten. Für 1974 hatte man sich ein ähnlich hohes Ziel gesteckt, das aber kaum zur Hälfte (!) erfüllt werden konnte. Planungschef Ivan Ilijew gab zu, daß zwischen 1975 und 1980 40.000 Wohnungen weniger gebaut werden können als ursprünglich vorgesehen. Dafür, so erklärte er vor kurzem, würden die dennoch gebauten Einheiten größer als früher sein. Planziel sind 12,5 Quadratmeter pro Person. Das scheint auf den ersten Blick viel zu sein, kann aber durch einen statistischen Trick leicht erreicht werden. Man nimmt den gesamtbulgarischen Durchschnitt und zählt tausende leerstehende Bauernhöfe und kleinstädtische Häuser dazu, aus denen die Bewohner schon vor Jahren in die Städte geflüchtet sind. In den Städten beträgt der Schnitt (letzte Erhebung 1972) knapp 10, auf dem Land hingegen 14 Quadratmeter.

Über die bauliche Qualität der östlichen Neubauten, auf deren Bezug man im Schnitt überall sechs bis acht Jahre lang warten muß, ist schon viel geschrieben worden. Aus persönlicher Erfahrung kann der Autor heute sagen: Es gibt gewaltige Unterschiede, die sich nach der Person des in Aussicht genommenen Mieters richten. Spezielle Wohnhäuser für Diplomaten, hohe Parteifunktionäre und andere „Spezialisten“ unterscheiden sich wenig — vielleicht nur in der phantasielosen Grundrißgestaltung — von Mittelklassebauten in Mitteleuropa. Spannteppiche, Parkette, getrenntes WC und Bad, großflächige Fenster sind Selbstverständlichkeit. Für die breite Masse jedoch wird anderes geboten: nackter Estrich, Rohholztüren, gekalkte Wände, sehr oft noch Etagenbad und Etagenküche für mehrere Familien, und ein Lift, der mangels Service nicht funktioniert. Pflege von Grünanlagen ist mit Ausnahmen so gut wie unbekannt.

Der räumliche Anspruch der Mieter ist ebenfalls begrenzt. Von der sowjetischen Norm ausgehend, gibt es eine Faustregel: eine Person — keine Wohnung; zwei Personen — ein Zimmer; Familie mit einem Kind: 2 Zimmer; Familie mit zwei Kindern: 2,5 bis maximal drei Zimmer. Da es der slawischen Mentalität nicht entspricht, ältere Familienangehörige ins Altersheim zu schicken, teilen sich junge Familien sehr oft mit der Großmutter oder dem Großvater die Wohnung, was eine unerträgliche Enge schafft. Aus dieser Situation heraus erklären sich auch die psychischen Defekte, mit denen die Behörden im Ostblock zu kämpfen haben: Alkoholismus, Gewalttätigkeit und Halbstarkentum, verbunden mit einer sich stets verschlechternden allgemeinen Arbeitsmoral.

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