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Was können die Ungarn lesen?

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Will man sich in Ungarn kompetent über die Buchproduktion informieren, so muß man sich an das Kulturministerium wenden. Denn sämtliche Verlage sind natürlich Staatsverlage, und der Generaldirektor aller dieser Unternehmen ist ein Regierungsfunktionär, übrigens eines sehr hohen Ranges. Wir sitzen einem erstaunlich jungen Menschen gegenüber, vielleicht E— 'drtSfßlg. :Ėr' stammt aus Siebenbürgen, spricht fließend eine .ganze Menge Sprachen, ist' Doktor- den Pariser Sor

bonne, von vielseitiger Bildung, gewandt, sachlich, ganz der neue Typ des östlichen Managers in der Periode des Abbaus der Ideologien. Bela Köpeczi kennt alle Spielarten des westlichen Buchmarkts, die Kunststücke der Lizenzen, die Literatur bis herauf zu Sarraute, Robbe-Grillet und Butor. Er plant die ganze ungarische Buchproduktion vom Schreibtisch wie der Chef eines Riesenkonzerns, also im Zusammenwirken mit zahlreichen Unterdirektoren und Spezialisten. Jeder der 19 Staatsverlage arbeitet in abgestecktem Terrain und stellt sich für alle wichtigen Entscheidungen bei ihm ein. So wird das Programm aller Verlage der vollkommen präzise Ausdruck des an höchster Stelle ausgearbeiteten kulturellen Konzepts und damit zu einem sehr deutlichen Bild der ganzen inneren Entwicklung.

Man hat vorerst einmal die verschiedenen Publikationsformen vom westlichen Buchmarkt in die volksdemokratischen Gegebenheiten eingepaßt. Es gibt Taschenbücher in Auflagen zwischen 60.000 und 120.000 pro Exemplar zum Preis von rund drei Forint (nach offiziellem Kurs gleich drei Schilling), Paperbacks in größerem Format zu rund sechs Forint, Normalausgaben in Ganzleinen zu rund 10 bis 20 Forint und bibliophile Aus- rvakon ir» Hanrlorlpr rwicrPiPn 90 1ina

30 Forint, außerdem Faksimiledrücke wie zum Beispiel die erste ungarische Übertragung des Neuen Testaments, die 240 Forint kostet. „Nicht mehr als 2OOO Stück, aber immerhin, Sie «ehen, so etwas machen wir.“ Außerdem wurde der Gedanke der Buchgemeinschaft übernommen, indem man Reihen schuf, die nur im Abonnement zu haben sind, etwa 50 Bände ungarische Klassiker und nun die „Bücher der Million“, Werke der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, ebenfalls vorläufig auf 50 Bände veranschlagt. Nun gut, die Buchformen sind vielfältig, es werden auch Zahlen genannt: 3000 Titel pro Jahr, wobei jeder Ungar pro Jahr für 45 Forint Bücher kauft.

Wir fragen nach den Bestsellern in Ungarn. Lächelnde Antwort: „Hemingway, Steinbeck, Thomas Manns

,Der Zauberberg“ allein 60.000 Exemplare, Martin du Gard ,Die Thibaults“, ja, und Scholochow.“ (Ich selbst möchte hier noch hinzufügen, daß, wie ich von andrer Seite erfuhr, 15.000 Exemplare der Buchausgabe von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ binnen einer Stunde vergriffen waren und daß Graham Greenes „Der stille Amerikaner“ ebenfalls einen Riesenerfolg hatte.) ', Köpeczi zeigt Bücher. und Prospekte: Francois Mau- riacs „Natterngezücht“,. Julien Greens „Leviathan“, Luise Rinsers „Jan Lobei aus Warschau", Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, dann die „Short Stories“, James Joyces „Leute aus Dublin“, Faulkners „Der Bär“, O'Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, Kafkas „Der Prozeß“, Heinrich Bölls „Haus ohne Hüter“, Walter Jens' „Der Blinde“. Es gibt kein Gesamtverzeichnis, nur die laufenden Neuerscheinungslisten, darum können wir nur die jüngere Produktion durchgehen, die man übrigens zum guten Teil in den Buchläden ausgestellt sieht. Man findet Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“, mehrere Romane von Moravia, „Eimer Gantry“ von Sinclair Lewis, Cronins „Der Hutmacher und sein Schloß“, Borcherts „Draußen vor der Tür“, Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“, Saint Exuperys „Kleinen Prinzen“, Gedichte von Jimenez, Nashs „Der Regenmacher“, Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ un J die wohlbekannten Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“ von Ceram, Pierre la Mures „Moulin Rouge“ und Francoise Sagans „Bonjour Tristesse“. — „Jetzt bereiten wir eben eine völlig ungekürzte Ausgabe von Prousts ,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vor. Ich wache genau darüber, daß nicht das Geringste gestrichen wird.“

Selbstverständlich trifft man die ganze kommunistische Literatur und russische Autoren in reicher Zahl. Außerdem gibt es ja noch einige Möglichkeiten, die gewünschten Akzente zu setzen, nämlich Preis und Auflagenhöhe. Da man nicht vom kommerziellen Standpunkt ausgeht, gibt man bestimmte Bücher eben mit sehr niedrigem Preis heraus, andere mit hohem, gleichgültig wie groß der Umfang ist. Köpeczi nennt selbst ein unverfängliches Beispiel: „Kriminalromane? Wir bringen sie, sind aber an der Verbreitung nicht gerade 'interessiert. Sie kosten also bei uns etwa 26 Forint. Hemingway bekommen Sie für vier Forint.“ Natürlich wählt man die Preise nicht nur nach solchen Gesichtspunkten. Stefan Zweigs „Schachnovelle“ etwa kostet mit 20 Forint unverhältnismäßig viel, ebenso Werfels

„Verdi mit 40 Forint, Remarques „Zeit zu leben, Zeit zu sterben“ mit 30 Forint. Für La Mures „Moulin Rouge“ zahlt man gar 55 Forint. Aber es gibt auch entgegengesetzte Pointen, wenn etwa Jozsef Darvas, des Schriftstellerverbandspräsidenten und Räkosi-Ministers Drama „Verrußter Himmel“ immerhin 16.50 Forint kostet.

,:Sehen- Sie", erklärt. Köpec;„wir haljen pinfacji eine beträchtlich'e Zahl intelligenter Leser, und für die müssen wir Bücher herausbringen.“

„Sie sagten, Herr Dr. Köpeczi, nur jene Bücher könnten tatsächlich nicht gebracht werden, die das Regime direkt angreifen. Wie steht es nun mit den amnestierten Schriftstellern Tibor Dery, Gyula Häy und mit Georg Lukäcs?“ Der Befragte formuliert langsam: „Häy und Dery sollen erst einmal Zeit haben, sich in unserer neuen Gesellschaft zurechtzufinden. Wir beschäftigen sie mit Verlagsaufträgen, sie haben alle sozialen Sicherungen, wir wollen aber erst Zeit verstreichen lassen, bevor wir an die Veröffentlichung ihrer Werke denken.“ — „Auch früherer Werke?“ — „Ja, auch dieser. Von Lukäcs ist aber eine kleine Schrift herausgekommen,

Man kann sich nach solchem Argument eines wenig guten Gefühls nicht erwehren, denn daß das Erscheinen eines wichtigen Buches aus dem Westen in Ungarn an den finanziellen Forderungen eines westlichen, kon- junkturgewohnten Verlegers scheitern soll, ja allein, daß man durch solche Forderungen den Oststaaten bereitwillig die hochwillkommene Ausrede ins Haus liefert, man könne dies und jenes eben einfach nicht bezahlen, dies ist eine recht traurige Tatsache. Mit Polen etwa hat die USA ein Kulturabkommen von 1 Million Dollar abgeschlossen, die für den Änkauf westlicher Rechte und Importbücher ausgegeben werden konnten. 'Gewifeife Ungarn sind die politischen Verhältnisse keineswegs so liberal gelockert wie in Polen, doch besteht heute kein Zweifel, daß ein ähnliches Abkommen die Liberalität — bis zu den heikelsten Fragen hin — enorm fördern würde. Das Gebiet der Kultur und natürlich gerade der Literatur ist in den Oststaaten als Schauplatz gedanklicher Auseinandersetzungen, als Forum wichtiger Modellbildungen von allergrößter Bedeutung. Der Westen sollte nichts unterlassen, um irgendwelchen vom Osten ausgehenden Versuchen, westliche Kultur und Literatur wieder bekanntzumachen — und solche Bestrebungen sind auch in Ungarn unbedingt feststellbar — nach bester Möglichkeit zu unterstützen

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