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Literatur des Massenmenschen

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Das faszinierende Wort „bestseller" hat siA im deutsAen Sprachgebrauch seit Kriegsende und gleichzeitig mit dem verstärkten Einfluß angelsächsisAer Literatur allgemein durchgesetzt. Man ist leicht ge- neigt, der Bezeichnung eine kulturell-literarische Bedeutung zu unterlegen, die ihrem eigentlichen Sinne keineswegs zukommt. Ein Bestseller ist, genau übersetzt, das BuA, das am meisten verkauft wird. Das Wort, eine typisA nordamerikanisAe Prägung, hat keinen literatu rkritisAen, geistigen Gehalt, es kommt aus dem Business, wurzelnd Im Zeitalter der Technik. Das Wort drückt den technisAen Gedanken des Verkaufsrekords aus, die Bestsellerautoren ähneln den Boxchampions, Rennfahrern, Rekordfliegem. Rekorde müssen gebrochen werden; „a bestseller can only be killed by another bestseller" (Tilby). Die Definition heißt nicht; Was gut ist, muß Erfolg haben, sondern: Was Erfolg hat, muß gut sein. Der amerikanische Bestseller ist die Lektüre der MassenmensAen, „jener nach Lebenshaltungen gesAiAteten Millionen, die, ohne naA- zudenken, die Modernität rein physisA erleben" (F. Behr). Der moderne Bestseller (die Bezeichnung wird erstmals 1905 in den USA nachgewiesen) entbehrt in seiner Gesamtheit des künstlerisAen und ethisAen Gehaltes, eine Folge des Verlustes des europäisAen Kulturideals — Bibel, griechische und lateinische Klassiker — und dessen Ersatzes durch NaturwissensAaft und Pragmatismus, der sich über den Utilitarismus aus dem Puritanismus entwickelt hat. WissensAaftlich-technisAer FortsAritt und Sensationsbedürfnis steigern einander. Das durch Zeitungen angewöhnte sAnelle Lesen führt zu Denkfaulheit und Denkunvermögen. Die GesAmacksdiktatur ist der geistigen Oberklasse entrissen, an ihre Stelle haben sich die rein gesAäftlichen Interessen der Verleger und der Tagespresse gesetzt. Der MassenmensA hungert nach Aktualität, die auf versAiedensten Gebieten liegen kann, je mehr aktuelle Bedürfnisse gleichzeitigt befriedigt werden, um so verkäuf- liAer ist das BuA. Sol Ae aktuelle Bedürfnisse sind zum Beispiel: unerfüllter Macht- und Sexualtrieb, Interessen für politisAe Fragen, für GesAiAte und populäre Wissensgebiete. Daraus ergibt sich die Dickleibigkeit der modernen amerikanisAen Bestseller, die 500 bis 600 Seiten stark sind, auf denen möglichst viele Bedürfnisse gleichzeitig gesättigt werden. Der Stil der Bestseller ist ohne Anzeichen einer Entwicklung, ihr Vokabular ist analog einem Sonntagsanzug, indem es ein Gefühl von höheren Sphären mit sich bringt. Gedicht, Dramen, Literaturkritik und KurzgesAiAten in BuAform werden vom breiten Publikum nicht gelesen, der Roman ist die einzige Literaturgattung, die heute allgemein unterstützt wird. Die Hauptkräfte der Massenliteratur sind der Spannungsreiz (thrill), der GesAleAtsreiz (sex-appeal) und das Erhebungsideal (uplift). Die Bestseller sind demnach in der Regel Detektivromane, bestehend aus etwa 60 Prozent thrill plus wenig sex-appeal, oder Waghalsromane (thrill plus uplift) oder Bil- dungs- und Erhebungsromane (50 Prozent uplift plus thrill plus sex-appeal). Ihnen eigen ist nicht der gediegene Schriftstil, sondern der vielgesichtige Sprechstil, meist von blendender AnsAaulichkeit (B. Fehr). Die Autoren, sämtlich lebende Zeitgenossen, gehören im Durchschnitt der mittleren Generation an, 35 Prozent davon sind Frauen, 25 Prozent sogar Anfänger. Die sehr zahlreichen historisAen Romane, die vor allem in Amerikas „großer Vergangenheit“ spielen, erfahren ihre Beliebtheit durch ihre Gegenwartsbezogenheit, durch die Parallelen zum aktuellen GesAehen. Nicht alle Bestseller weisen das Happy-End auf, eine ganz bedeutende Anzahl endet tragisA und vor allem die meisten der Spitzenbestseller weisen ein unentsAiedenes Ende auf, wodurch der Leser verleitet wird, siA noch nach der Lektüre mit dem Buch zu besAäf- tigen, davon zu sprechen und dadurch zum Verkaufserfolg beizutragen. Bestseller sind Eintagsfliegen, Are Erfolgsdauer (jene Zeit, in der noch Neuauflagen ersAeinen) beträgt im DurAschnitt drei Jahre, der Aufstieg ist fast immer plötzlich, meteorhaft, der Abstieg allmählich. VersAiedene sozial SAiA- ten lesen ihn zu versAiedenen Zeiten, Ae HauptlesersAaft wird vom wohlhabenderen Mittelstand gestellt. Die Standardausgaben kosten durchsAnittlich 2,6 Dollar, die sehr seltenen bibliophilen Luxusausgaben 9,6 Dollar, die zum Zwecke des Ausverkaufs der Chancen immer erst ein bis zwei Jahre naA der BestsellersAaft gedruAten billigen Ausgaben 91 Cent. Mit Ausnahme der „Motion- Picture-Editions“ (nach der Verfilmung eines Buches mit Filmbildern ersAeinende billige Ausgaben) sind Illustrierungen selten.

Zur Bereicherung des Themas noch einige Merkmale des DurchsAnittsbestsellers: Die Spannung steht im Vordergrund, Charakteranalysen und LandsAaftsbesAreibungen haben wenig Bedeutung. Die amerikanisAen Helden sind Selfmademan, die britisAen von Geburt an reich. Fast immer Romane des Herzens (im Gegensatz zu Bewußtseinsromanen). Die Verfasser beabsichtigen, die Bürger in der Behaglichkeit ihres Lebens und im Bewußtsein von der Richtigkeit ihrer Maßstäbe zu unterstützen, manAe Bestseller erfuhren Are Popularität aber auA aus dem extremen Gegenteil (Mitchell: „Gefährliches Leben“, Steinbeck: „Anklage“, Morley: „Spott“). VersAiedene

Bestseller derselben Autoren sind inhaltlich und stilistisA auffallend ähnlich. Die Bestseller können ohne Zwang eingeteilt werden in Propaganda- und imaginative Literatur (Huxley). Erfolgreiche Propaganda stellt sich auf die Seite der jeweils als erfolgreich geltenden ErsAeinungen, sAafft sie niAt, aber fördert sie, kanalisiert bereits vorhandene Strömungen. Die Leser der Propagandaliteratur versuchen, die Realitäten gemäß ihren WünsAen zu formen, die der imaginativen Literatur versuchen aus eben dieser Realität zu fliehen. Die Flucht kann sich auf zweierlei Arten vollziehen: im täglichen Leben, indem man aus Büchern entlehnte Charaktere spielt, oder in der Imagination, Adem man während der Lektüre und in den daraus befruchteten Phantasien ein Ersatzleben führt. Hier liegt die VerwandtsAaft zum Betäubungsmittel des m der gleichen Epoche entstandenen Films auf der Hand. Die WunsAträume der Verfasser stimme mit denen einer großen! Leserzahl überein (reiche Helden, sAöne Abenteuerinnen — unerfüllte MaAt- und Sexualtriebe).

So sieht der Bestseller in den USA aus, im Spiegel einzelner aus dem Humanismus kommender amerikanisAer Kritiker, die gleich Rufern m der Wüste ihre Stimme erheben.

Bei einer Untersuchung über die Aufnahme des amerikanischen Bestsellers auf europäisAem Boden ist die Auswahl der in den einzelnen Ländern verlegten Bücher und innerhalb dieser der Umfang der einzelnen Erfolge zu betrachten. Aus dem vorliegenden statistisAen Material läßt sich das, wonach wir gemüthaft vor allem suAen, eine gemeinsame abendländisch Einstellung, nicht ableiten.

In England sAd fast alle Bestseller in englisAen Ausgaben herausgekommen, wobei vor allem die Ärzteromane und die Liebes-Kriminalromane (entsprechend britisAer NationalleidensAaft) besonderen Anklang gefunden haben. Die von britisAen Autoren gesAriebenen BüAer werden dabei vor allen anderen bevorzugt, was sich sowohl auf die Auflagenhöhe, die Dauer der Beliebtheit und die Zahl der nachfolgenden wohlfeilen Ausgaben bezieht. Dadurch ist bereits eine ganz deutliche Selektionskraft der Briten aufgezeigt, vor allem im nationalen Bereich wurzelnd.

So wie Frankreich siA in der sAwer zu meisternden Gegenwart auch in anderen Belangen als ungesAwächte und zukunftsträchtige Kulturnation erweist (religiöser Aufbruch, kühne soziale Experimente, Sartre und Claudel gleichzeitig!) nimmt es auch gegenüber dem amerikanisAen Bestseller eine durchaus persönliche und be- herrsAte Stellung ein, wobei freilich die Notwendigkeit der Übersetzung an sich sAon als sAarfes Sieb wirken mag. Kaum 25 Prozent der amerikanisAen Bestseller wurden übersetzt, wobei vor allem die literarische Qualität aussAlaggebend war. Wieder einmal mehr sind die Franzosen diejenigen, die einer bedrängenden WeltersAei- nung mit förmlich heiterer und müheloser Selbstverständlichkeit die Spitze abbrechen. In den Händen der sensiblen Verleger von der Seine verwandelt sich der Bestseller in eine kultivierte Angelegenheit, der bibliophile Sinn bemächtigt sich der aus der Fremde kommenden Bücher, Erstabzüge auf teurem Papier werden hergestellt. TypisA: Von M. Mitchells „Gone Wich The Wind“ wurde in England keine, in Amerika nur eine unbedeutende lokale Luxusausgabe her- gestellt, in Frankreich dagegen ersAien sogleich eine teure Luxusausgabe.

Auch Italien zeigt seinen nationalen Charakter in der Auswahl, die siA auf rund 30 bis 35 Prozent der in den USA heraus- gekommenen Bücher bezieht. Neben der Berücksichtigung des qualitativen Erfolges wurden kraft der italienisAen Vorliebe für das Monumentale und RomantisAe vor allem historisAe Romane übernommen, die in der Revolution oder im Bürgerkrieg spielen.

Im deutschen Sprachgebiet, in dem, als ganzem gesehen, durch die Größe des Landes DeutsAland dominiert, zeigt es siA, daß die in großer Zahl (60 Prozent) übersetzten Bestseller vor allem zur Flucht aus der Wirklichkeit verwendet werden. Bü- Aer, die sich mit der europäisAen Gegenwart befassen, werden im DurchsAnitt ängstlich vermieden, die historisAen und Liebes-Kriminalromane werden vorgezogen, ferner Plaudereien, Sportliteratur. Gegenteilig dazu die Haltung der Schweiz, die bestrebt ist, sich mit den Problemen der Gegenwart auch im Bestseller zu besAäf- tigen. Deutlicher läßt sich die geistige Ruhebedürftigkeit der in Rekonvaleszenz befindlichen DeutsAen kaum zeigen.

Einige interessante Untersuchungen wurden in der SAweiz angestellt. Dort wurde neben dem Verkaufs-, beziehungsweise Auflagenerfolg vor allem der Leseerfolg festgestellt, wobei es sich ergab, daß unter den Bestsellern vor allem englisAe Autoren bevorzugt werden Am meisten gelesen wurden Cronin: „The Citadel“ und Lleweltyn: „How Green Was My Valley“, was durch die außerordentliche Beliebtheit dieser beiden Bücher beim weiblichen Lesepublikum entschieden wurde. Insgesamt wurde die bekannte Vorliebe der Frauen für weit- ausholende historische Romane anläßlich der Befragungen neu bestätigt.

So ist der Bestseller ein Kind des amerikanisAen 20. Jahrhunderts im Zeichen der Anbetung des Zahlenrekords. So wie einst die Verteilung von Literaturpreisen vom gebildeten Publikum mit Spannung als ein Ausdruck höchster kultureller und künstle- risAer Werte erwartet wurde, sehen heute die Lesermassen der Verkündigung des nächsten Verkaufsrekords entgegen und nehmen dieses geschäftlich-technisAe Urteil als bindend hin. Ein sAauerlicheres Warnzeichen über die Entmachtung des Geistes ist wohl kaum denkbar. Europa, an der Spitze Frankreich, leistet der ErsAeinung noch Wider?fand, man will sich das persönliche Uh ¿1 nicht rauben lassen. Dennoch läßt ei ch nicht Vorhersagen, ob die Ehrfurcll PDr dem Bestseller nicht ein- treten könnte. Vorläufig gibt es keine sicheren Anzeichen dafür. Das Sinken oder Steigen des amerikanisAen Prestiges wird jedenfalls von Einfluß sein.

Ein Heilung von diesem Übel ist nicht über eine „Bekämpfung“ des Bestsellerunwesens möglich, denin dieses ist nur das äußere Zeichen innerer geistes- und kultur- gesAiAtliAer Vorgänge. Erst eine neue Humanität wird eine Wendung bringen können. Woher diese Wendung kommen dürfte, ist bereits zu erkennen. Es hat siA die geradezu paradoxe Tatsache ergeben, daß in den letzten Jahren religiöse Werke mehrfach die Spitze der Bestsellerliste erklommen haben. Der Petrus-Roman „The Big Fisherman“ von Lloyd C. Douglas hält seit Dezember 1948 mit 450.000 Exemplaren die Spitze der Liste. „The Seven Storey Mountain“ von Merton und „The Greatest Story Ever Told“ (Nacherzählung des Lebens Christi) von Oursler haben je 150.000 Exemplare erreicht. Die Erfolge zweier weiterer religiöser Romane von Douglas: „Magnificent Obsession“ und „The Robe“, liegen bereits Jahre zurüA, sie erreichten 700.000, beziehungsweise über eine Million Exemplare. In die gleiAe RiAtung weist die sehr günstige Aufnahme, welAe auch andere katholisAe Konvertiten, wie

Evelyn Waugh und Graham Greene beim gehobeneren amerikanisAen Leser fanden.

Es besteht kein Zweifel, daß eine unter Umständen zunehmende Katholizität den geistig-kulturellen Reifeprozeß der Nordamerikaner fördern würde. Das Wesen des technisAen Zeitalters, die leblos-lebendige Dämonie der MasAine läßt sich weder mit Vitalität noch mit dem Verstand besiegen, die Kräfte des Opferns und Dienens aus wahrer Religiosität werden die entsAei- dungssAwere Aufgabe, mehr unsichtbar als sichtbar, lösen, wenn nicht anders die Zukunft der MensAheit in Finsternis versinken soll.

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