6593707-1952_43_09.jpg
Digital In Arbeit

„Haben Sie das Recht, ruhig zu schlafen ?“

19451960198020002020

Bedeutsame Initiative des Erzbischofs von Paris Von J. P. Dubois-Dumee, Paris

19451960198020002020

Bedeutsame Initiative des Erzbischofs von Paris Von J. P. Dubois-Dumee, Paris

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Million Franzosen warten auf eine Wohnung. Unter ihnen sind 100.000 Ehepaare, die in Paris in Untermiete leben — in einem einzigen Raum, wo sie schlafen und speisen, mit einem Worte leben müssen —, manchmal mit zwei oder drei Kindern.

Warum ist dies der Fall? Der nächst- liegende Grund sind die Zerstörungen des letzten Krieges, die 560.000 Wohnungen unbrauchbar gemacht haben, von denen zu Ende 1951 erst 230.000 wiederhergestellt waren. Es gibt aber noch andere Ursachen: Vor 1939 bestand ein jährlicher Geburtenabgang von 35.000 Kindern, heute aber gibt es einen Überschuß von alljährlich 3 0 0.0 0 0. Die Geburtenziffer übersteigt jene des Jahres 1939 um 35 Prozent — die Wiegen sind wieder zahlreicher geworden als die Särge.

Die jungen Ehepaare wissen nicht, wo sie ihr Haupt hinlegen sollen. Die Hälfte von ihnen hat bei ihren Eltern Unterkunft gefunden, 30 Prozent leben in Wohnverhältnissen, bei denen die Ankunft eines Kindes als Katastrophe angesehen werden müßte. Man bedürfte, um dieser Not zu steuern, der jährlichen Er: bauung von 60.000 bis 70.000 neuen Wohnungen.

Was war in dieser Lage zu tun? Die Katholiken haben sich dieser brennenden Frage angenommen. In zahlreichen Hirtenbriefen haben die Bischöfe die traurigen Folgen dieser Zustände unterstrichen: Trunksucht, Tuberkulose, Entzweiung in den Ehen Und sie haben so starke Aufrufe ergehen lassen wie jenen des Bischofs von Tours, Monseigneur Gaillard:

„ Jene, die den Vorzug genießen, eine passende, geräumige Unterkunft ihr eigen zu nennen, wo sie sich behaglich fühlen, müssen sich einzuschränken wissen, sich wirkliche Opfer auferlegen, um die Obdachlosen bei sich aufzunehmen, und unter diesen wiederum in erster Reihe die vielköpfigen Familien und die jungen Eheleute."

Kardinal G e r 1 i e r sagte mit Nachdruck:

„Ich zögere nicht, zu sagen, daß jene, die solche Opfer bringen könnten und diese — sei es aus Furcht vor der Einschränkung, sei es aus Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Brüder — meiden, eine schwere Verantwortlichkeit auf ihr Gewissen nehmen..

Schließlich erließen die Kardinale und Erzbischöfe im Oktober des Jahres 1951 eine gemeinsame Erklärung: „Die Bewegung für die Wohnungshilfe", aber dies waren schließlich nur Appelle. Der „Secours Catholique", die größte französische Organisation der katholischen Nächstenliebe, begann einen Wohnungs f e 1 d z u g, um Handlungen der Caritas anzuregen: die Behausung zu teilen, ein unwürdiges Quartier menschenwürdig zu gestalten. Die „Frauenliga der Katholischen Aktion“, die mehr als zwei Millionen Mitglieder umfaßt, erlangte von ihren Mitgliedern, daß in 45 Diözesen eine Wohnung instandgesetzt wurde.

Das ist recht wenig, wird man sagen, angesichts des Bedarfes, aber es ist eine Anstrengung, eine Tat, um einmal den Weg realer Ergebnisse zu betreten. Man kann sich da nicht mit Worten bemühen: es gilt zu bauen.

Gerade dies ist nun das Ziel, auf das die Initiative gerichtet ist, die der Erzbischof von Paris, Monseigneur F e 11 i n, vor fünf Monaten ergriffen hat. Dieser Kirchenfürst hat sich entschlossen, die Schirmherrschaft über einegroße Bewegung der Wohnungshilfe zu übernehmen, die unter dem Leitwort steht „Haben Sie das Recht, ruhig zu schlafen, wenn Ihr Nächster kein Dach über dem Kopf hat?" An ihrer Wiege stehen einige tatkräftige Persönlichkeiten der Katholischen Aktion, Fachleute in Wohnungsfragen. Diese Bewegung, die ein erstes Bauprogramm zur Errichtung von Wohnungen aufgestellt hat, hat eine A n- leihe aufgelegt. Denn es handelt sich hieT nicht darum, Gaben einzusammeln, sondern eine Kapitalsanlage vorzuschlagen. Allerdings wird das hier angelegte Geld keine Verzinsung abwerfen.

„Wir wollen heute die Verantwortung hervorheben“, schrieb Monseigneur Feltin in einem Brief, der am 25. Mai von allen Pariser Pfarrkanzeln verlesen wurde, „die auf jedem Christen angesichts dieser Notwendigkeit, Wohnungen zu bauen, ruht. Eine ganz besondere Verantwortung für die Besitzenden und für jene, die selbst eine große Wohnung besitzen. Man sagt, das Bauen sei nicht rentabel. Aber die Kirche hat immer gelehrt, daß jene, die Reichtümer besitzen, sich in gewissem Sinne als Vertreter des allgemeinen Wohles zu betrachten haben. Unter diesen Bedingungen kann man mit berechtigtem Gewissen die Gesamtheit seines Besitzes in bestimmten Unternehmungen anlegen, einzig und allein, um greifbare Erträge zu erzielen? Kann man, in welcher Form immer, die Reichtümer anhäufen, während unerfüllt bleibt, was Papst Pius XII. mit den Worten gekennzeichnet hat: ,Das dringende, beängstigende Bedürfnis Tausender und aber Tausender von einzelnen und Familien, zu Wohnungen zu verhelfen, die ihnen ein Mindestmaß an Hygiene und Wohl bieten, von Würde und Sittlichkeit gewährleisten?’ So erscheint es wohl für jeden als Pflicht, einen Teil seiner verfügbaren Mittel, wie bescheiden er immer sei, in den Dienst des Wohnungsbaues zu stellen."

So trägt nun das hiefür geliehene Geld keine Zinsen. Aber die Erhaltung des Kapitals ist gesichert: diese in Beton angelegten Mittel werden binnen 30 Jahren zum Preise des Betons zurückerstattet. Dieser Vorteil ist in einer Zeit des schwankenden Geldwertes hoch anzu- schlagen.

Aber, so wird man fragen, wer bürgt hiefür? Die Antwort lautet: Die Mieter, die sich verpflichten, einen gleitenden Zins zu bezahlen — und nicht nur diesen selbst, sondern auch die Kosten des Baues, angepaßt an die Lebenshaltungskosten.

Die Mietzinse schaffen also in der Tat einen progressiven Rückkauf des Kapitals. Die Mieter werden auf diese Weise die gezeichneten Anteile in der Art zurückkaufen, daß sie binnen 30 Jahren Eigentümer ihrer Wohnung werden. Die Berechnungen sind so erstellt, daß eine Arbeiterfamilie mit drei Kindern bei 50.000 Francs monatlichem Lohn und Familienzulagen nicht mehr zu zahlen hat als anfangs 12.500 Francs je Monat zur Entschädigung für den Rückkauf. Von diesem letzteren Betrag sind die staatlichen Familienzulagen in Abzug zu bringen, so daß sich der tatsächliche Aufwand auf monatlich etwa 6000 Francs vermindert.

Schon sind annähernd 100 Millionen Francs aufgebracht worden. Die ersten Bauten werden in Kürze beginnen. Diese Initiative eröffnet eine neue Epoche: sie entspringt dem Willen, die Lehren der Kirche in die Tat umzusetzen. Sie geht von dem Gedanken aus, daß es notwendig ist, auf der menschlichen Würde entsprechende Lebensbedingungen zu achten, wenn man will, daß jemand als Christ lebe. Das Apostolat besteht nicht in der Errichtung von Wohnhäusern an sich, aber die Schaffung von angemessenem Wohnraum fördert das Apostolat.

Es sind nun 20 Jahre verflossen, seit Kardinal Verdier die „Chantiers du Cardinal" eröffnete, denen Paris und seine Umgebung mehr als hundert Kirchen verdanken. Heute eröffnet Erzbischof Feltin Baustätten, deren Bedeutung nicht geringer ist als die jener ersteren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung